Leitsatz
Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Pflichten aus den Art. 96 und 98 Abs. 2 MwStSystRL verstoßen, dass sie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwendet, die von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d’État und bei der Cour de cassation und den "avoués" erbracht werden und für die diese vollständig oder teilweise durch den Staat im Rahmen der Prozesskostenhilfe entschädigt werden.
Normenkette
Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 1 S. 1 der 6. EG-RL, Art. 97 Abs. 1 MwStSystRL (vgl. § 12 UStG)
Sachverhalt
Die Kommission erhob eine Klage, weil Frankreich für Rechtsberatungsleistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe einen ermäßigten Steuersatz vorgesehen hatte.
Entscheidung
Der EuGH gab der Klage statt: Selbst wenn die von den Rechtsanwälten im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Leistungen gemeinnützig wären und als "für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" erbracht angesehen werden könnten, wäre dieser Umstand nicht ausreichend für die Schlussfolgerung, dass die Rechtsanwälte als "gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" qualifiziert werden dürften.
Hinweis
Das Verfahren betrifft eine Vertragsverletzungsklage, in der es um die Frage der Anwendbarkeit eines ermäßigten Steuersatzes in Frankreich ging. Die Entscheidung hat für das UStG nur insoweit Bedeutung, als sie den Begriff der anerkannten "Einrichtungen mit sozialem Charakter" konkretisiert.
1. Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden für die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III MwStSystRL bzw. Nr. 14 des Anhangs H der 6. EG-RL genannten Kategorien u.a. in Nr. 15 für die "Lieferung von Gegenständen und Erbringung von Dienstleistungen durch von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit", soweit sie nicht ohnehin von der Steuer befreit sind. Steuerbefreit sind nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL bzw. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-RL"eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden". Ob Leistungen von Rechtsanwälten im Rahmen der Prozesskostenhilfe ermäßigt werden dürfen – so eine Regelung in Frankreich – war umstritten.
2. Der Begriff "mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen" i.S.d. genannten Vorschriften des Unionsrechts setzt zwar eine abgegrenzte Einheit voraus, die eine bestimmte Funktion erfüllt; doch wird dieses Merkmal auch von natürlichen Personen erfüllt und umfasst auch private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht. Das Streben nach Gewinnerzielung ist zwar als ein erhebliches Kriterium bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, ob eine Einrichtung "sozialen Charakter" hat, schließt aber einen solchen Charakter nicht unter allen Umständen aus. Diese zu den Befreiungen ergangene Rechtsprechung ist erst recht für die Mehrwertsteuerermäßigungen zu beachten.
Voraussetzung ist jedoch, dass die "Einrichtung" tatsächlich als gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit anerkannt ist. Insoweit haben die Mitgliedstaaten zwar einen Spielraum, der jedoch im Einklang mit den Vorgaben des Unionsrechts auszufüllen ist. Das bedeutet konkret, dass die Einrichtung sowohl gemeinnützig als auch für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit tätig sein muss. Ist das nicht der Fall, liegen die Voraussetzungen für eine Anerkennung nicht vor. Das ist auch bei der Frage zu beachten, ob es – bei Fehlen ausdrücklicher Regelungen zur Anerkennung im nationalen Recht – hinreichende Anhaltspunkte für eine Anerkennung in anderer Form – z.B. durch Übernahme der Kosten durch die öffentliche Hand – ergibt. Private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht dürfen nicht allein deshalb als "Einrichtungen mit sozialem Charakter" definiert werden, weil sie auch Leistungen mit sozialem Charakter erbringen (hier im Rahmen der staatlich gewährten Prozesskostenhilfe).
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 17.06.2010, C-492/08 – Europäische Kommission –