Leitsatz
1. Das FG verletzt den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör, wenn es gemäß § 94a Satz 1 FGO im vereinfachten Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet, ohne dem Beteiligten zuvor seine dahin gehende Absicht und den Zeitpunkt mitzuteilen, bis zu dem er sein Vorbringen in den Prozess einführen kann.
2. Das Gericht erfüllt diese Hinweispflicht jedenfalls gegenüber einem nicht fachkundig vertretenen Beteiligten nicht, wenn es nur darauf hinweist, "alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO" fällen zu wollen und eine Frist ohne weitere Erläuterung ("Frist: 4 Wochen") einräumt.
Normenkette
§ 11 Abs. 3, § 94a, § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, Art. 103 Abs. 1 GG, § 31 Abs. 1 BVerfGG, § 495a ZPO
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter der 1989 geborenen T, die einen berufsbegleitenden Studiengang vorzeitig abgebrochen hatte. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung bestandskräftig auf und forderte das für Juni bis November 2013 ausbezahlte Kindergeld zurück.
Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung und Betrugs wurde nach § 153 Abs. 1 StPO wegen Geringfügigkeit eingestellt. Danach setzte die Familienkasse gegen die Klägerin Hinterziehungszinsen i.H.v. 25 EUR fest.
Im Klageverfahren erklärte die Klägerin, sie sei bereit, die 25 EUR zu zahlen, wehre sich aber gegen den Vorwurf der Steuerhinterziehung. Ihre Tochter habe bereits ein eigenes Leben geführt und den Ausbildungsabbruch nicht rechtzeitig mitgeteilt.
Das FG wies nur die Familienkasse, nicht aber die Klägerin darauf hin, dass der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen werden könne. Mit Beschluss vom 1.6.2015 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen, der den Beteiligten seine Rechtsauffassung schriftlich darlegte. Sein Schreiben enthielt den Zusatz: "Es wird darauf hingewiesen, dass das Gericht bei einem Streitwert von 25 EUR alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO fällen wird. Frist: 4 Wochen". Am 4.7.2015 machte die Klägerin weitere Ausführungen zur Sache. Sodann wies der Einzelrichter die Klage am 29.7.2015 gemäß § 94a FGO ohne mündliche Verhandlung ab (Hessisches FG, Urteil vom 29.7.2015, 5 K 504/15).
Ihre Nichtzulassungsbeschwerde stützt die Klägerin auf Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Entscheidung
Der BFH hat nicht die Revision zugelassen, sondern das FG-Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO).
Hinweis
1.Das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) begründet zwar keinen Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung, aber stellt sicher, dass sich jeder Verfahrensbeteiligte vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zum Sachverhalt äußern und Anträge stellen kann.
2. Im finanzgerichtlichen Verfahren ermöglicht § 94a Satz 1 FGO bei Streitwerten bis zu 500 EUR ein Verfahren nach billigem Ermessen und somit ein schriftliches Verfahren. Auf Antrag eines Beteiligten muss indes mündlich verhandelt werden (§ 94a Satz 2 FGO). Wegen dieses Antragsrechts muss das FG, wenn es sich für ein schriftliches Verfahren entscheidet, den Parteien seine Absicht und den Zeitpunkt mitteilen, bis zu dem sie ihr Vorbringen in den Prozess einführen können (BVerfG, Kammerbeschluss vom 18.11.2008, 2 BvR 290/08, NJW‐RR 2009, 562). Soweit der BFH ein derartiges Hinweiserfordernis in ständiger Rechtsprechung verneint hatte, ist das durch den BVerfG-Beschluss überholt; die Hinweispflicht ist unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleiten. Einer Divergenzanfrage bei den betroffenen Senaten gemäß § 11 Abs. 3 FGO bedurfte es nicht, da die durch das BVerfG vorgenommene Auslegung des Art. 103 Abs. 1 GG gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG für alle Gerichte bindend ist.
3. Der Hinweis, "alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO fällen" zu wollen, lässt jedenfalls einen nicht fachkundig vertretenen Beteiligten nicht hinreichend deutlich erkennen, dass das Gericht im schriftlichen Verfahren entscheiden will, und der Zusatz "Frist: 4 Wochen" stellt nicht klar, dass die Beteiligten ihr Vorbringen nur noch bis zu diesem Zeitpunkt in den Prozess einführen können.
4. Die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter bedarf keiner vorherigen Anhörung der Beteiligten (§ 6 Abs. 1 FGO); anders als die Rückübertragung auf den Senat (§ 6 Abs. 3 FGO).
5. Der vorliegende Rechtsstreit wurde nicht um Geld geführt (25 EUR Hinterziehungszinsen), sondern um Ehre. Das Urteil schließt mit (nicht bindenden) Hinweisen zur Prüfung des subjektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung, die auf andere Fälle übertragen werden können, in denen der Ausbildungsabbruch des in eigenem Haushalt lebenden Kindes der Familienkasse nicht zeitnah zur Kenntnis gebracht wird.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 6.6.2016 – III B 92/15