Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
1. Eine Veräußerung i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ist weder von der Höhe der Gegenleistung noch von der Höhe der anfallenden Veräußerungskosten abhängig (entgegen BMF-Schreiben vom 18. Januar 2016, IV C 1‐S 2252/08/10004, BStBl I 2016, 85, Rz. 59).
2. Es steht grundsätzlich im Belieben des Steuerpflichtigen, ob, wann und mit welchem Ertrag er Wertpapiere erwirbt und wieder veräußert (vgl. BFH-Urteil vom 25. August 2009, IX R 55/07, BFH/NV 2010, 387, Rz. 13). Dadurch macht der Steuerpflichtige lediglich von gesetzlich vorgesehenen Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch, missbraucht diese aber nicht.
Normenkette
§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1, Abs. 6 Satz 6, § 32d Abs. 4, § 43a Abs. 3 Satz 4 EStG
Sachverhalt
Der Kläger erwarb in den Jahren 2009 und 2010 über die Sparkasse X 800 Inhaber-Stammaktien der GSE zu Anschaffungskosten in Höhe von insgesamt 5.759,78 EUR. Die Aktien veräußerte er im Jahr 2013 in zwei Chargen zu einem Gesamtverkaufspreis von 8 EUR und 6 EUR an die Sparkasse X. Diese behielt in gleicher Höhe Transaktionskosten ein.
Die Sparkasse X buchte den Verlust in Höhe von insgesamt 5.759,78 EUR nicht in die sog. Verlustverrechnungstöpfe ein und stellte über den Verlust auch keine Bescheinigung aus. Es folgte damit dem BMF-Schreiben vom 9.10.2012 (IV C 1 – S 2252/10/10013, BStBl I 2012, 953, Rz. 59), ersetzt durch BMF-Schreiben vom 18.1.2016 (IV C 1 – S 2252/08/10004, BStBl I 2016, 85, Rz. 59).
Der Kläger machte in seiner ESt-Erklärung für 2013 den Verlust aus der Veräußerung der Aktien i.H.v. 5.759,78 EUR bei den Einkünften aus Kapitalvermögen geltend. Im selben Jahr erzielte er Aktiengewinne i.H.v. 6.839 EUR. Er stellte einen Antrag auf Überprüfung des Steuereinbehalts gemäß § 32d Abs. 4 EStG. Das FA berücksichtigte bei der Festsetzung der ESt die geltend gemachten Aktienverluste wegen der fehlenden Steuerbescheinigung nicht. Das FG (Niedersächsisches FG, Urteil vom 26.10.2016, 2 K 12095/15, Haufe-Index 10128368, EFG 2017, 132) gab der dagegen gerichteten Klage statt.
Zur Begründung der Revision, der das BMF beigetreten war, führte das FA aus, es liege ein Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten gemäß § 42 AO vor. Der einzige Zweck des Aktienverkaufs sei gewesen, in den Genuss einer Steuerminderung zu kommen.
Entscheidung
Der BFH hat die Revision des FA als unbegründet zurückgewiesen.
Hinweis
1. Der BFH hat in seinem Urteil eine klare Aussage getroffen: Der Steuerpflichtige kann sich jederzeit von wertlos gewordenen Aktien trennen und den Aktienverlust steuerlich geltend machen. Dies ist auch dann der Fall, wenn er die Aktien an die depotführende Bank i.H.d. Transaktionskosten veräußert, sodass wirtschaftlich eine Veräußerung zum Preis von 0 EUR erfolgt.
2. Entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung liegt in diesem Fall kein Gestaltungsmissbrauch i.S.d. § 42 AO vor. Die Voraussetzungen einer Veräußerung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG sind erfüllt. Der Kläger hat seine Aktien an einen Dritten übertragen. Mit der Veräußerung i.H.d. Transaktionskosten wird nicht gegen eine vom Gesetzgeber vorgegebene Wertung verstoßen. Es wird lediglich von einer durch das Gesetz eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht. Dies ist auch nicht wirtschaftlich sinnlos. Das anzuerkennende wirtschaftliche Ziel besteht nach Auffassung des BFH in der Veräußerung der Aktien zur Realisierung von Verlusten, unabhängig vom erzielbaren Ertrag. Die vom FA favorisierte Lösung der Ausbuchung der Aktien aus dem Depot ignoriert das wirtschaftliche Ziel der Realisierung der steuerlichen Verluste.
3. Die Dispositionsfreiheit des Steuerpflichtigen kann danach von der Finanzverwaltung nicht derart eingeschränkt werden, dass "lästig" gewordene Aktien aufgrund eines Kursverlustes nicht steuerlich durch eine Veräußerung zu einem minimalen Verkaufspreis nutzbar gemacht werden können. Der Steuerpflichtige kann auch nach der Einführung der Abgeltungsteuer den Zeitpunkt der Besteuerung des Aktienverlustes frei bestimmen. Das BMF-Schreiben, nach dem die Wertpapiere im Depot bis zur einer Ausbuchung zu belassen sind, ignoriert das wirtschaftliche Ziel der steuerlichen Realisierung von Aktienverlusten.
4. Zu beachten ist, dass Verluste aus Aktiengewinnen gemäß § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG nur mit Gewinnen aus der Veräußerung von Aktien verrechnet werden können. Umso unverständlicher ist die restriktive Linie der Finanzverwaltung. Die Frage, ob die Verlustverrechnungsbeschränkung verfassungsgemäß ist, wird höchstrichterlich noch zu klären sein.
Erkennt das depotführende Kreditinstitut Verluste aufgrund eines BMF-Schreibens nicht an, ist Folgendes zu beachten:
a) Es muss in der Einkommensteuererklärung ein Antrag auf Überprüfung des Steuereinbehalts nach § 32d Abs. 4 EStG gestellt werden. Nur dies ermöglicht im Rahmen der (Antrags-)Veranlagung die Verrechnung der noch nicht im Depot berücksichtigten Verluste mit Gewinnen aus Aktiengeschäften. Allerdings lässt sich der Antrag nicht auf bestimmte Kapitaleinkünfte beschränken, sondern führt zu...