Dipl.-Finanzwirt Karl-Heinz Günther
Leitsatz
Für den Betreiber eines Lebensmitteleinzelhandels, der seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt, bestand – jedenfalls nach der Rechtslage in den Jahren 2016 bis 2019 – auch dann keine Verpflichtung zur Einzelaufzeichnung seiner Barumsätze sowie der Aufbewahrung dieser Ursprungsaufzeichnungen, wenn er ein modernes PC-Kassensystem verwendet, das sämtliche Kassenvorgänge einzeln und detailliert aufzeichnet und deren langfristige Speicherung ermöglicht.
Sachverhalt
Im Streitfall kam das Finanzamt nach einer Außen- und Steuerfahndungsprüfung bei dem Betreiber eines Lebensmitteleinzelhandelsgeschäfts zu dem Ergebnis, dass der Steuerpflichtige gegen die Aufbewahrungspflicht des § 147 AO verstoßen habe, indem er die mit den beiden eingesetzten Kassen des Typs Samsung SAM4S ER 945 gefertigten Einzelaufzeichnungen nicht auf den zugehörigen SD-Karten gespeichert habe. Der Umstand, dass alle digitalen Einzelaufzeichnungen fehlen würden, stelle einen gravierenden Mangel dar. Dieser begründe hinreichende Zweifel an der sachlichen Richtigkeit der Aufzeichnungen und der darauf basierenden Einnahmen-Überschussrechnung (EÜR). Das Finanzamt schätzte daraufhin die Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO und erließ entsprechend geänderte Einkommensteuer-, Umsatzsteuer- und Gewerbesteuermessbescheide für 2016 bis 2019. Der Steuerpflichtige legte hiergegen Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung, die das Finanzamt ablehnte. Hiergegen richtet sich die vom Steuerpflichtigen eingelegte Beschwerde.
Entscheidung
Das FG entschied im Rahmen der summarischen Prüfung des Aussetzungsverfahrens, dass das Finanzamt in sämtlichen Streitjahren gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 AO zu einer Hinzuschätzung beim Gewinn und beim Umsatz befugt war. Die Schätzungsbefugnis ergab sich jedoch nicht bereits aufgrund eines formellen Mangels der Verpflichtung zur Aufbewahrung von mit der Geschäftskasse erstellten Einzelaufzeichnungen, sondern daraus, dass aufgrund materieller Fehler – nämlich dem Verschweigen der Erlöse einer zweiten Kasse – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die vom Steuerpflichtigen eingereichten Aufzeichnungen und die darauf basierenden EÜR sachlich falsch sind. Das FG stellte heraus, dass der vom Finanzamt angenommene Verstoß gegen die Aufbewahrungspflicht hinsichtlich der digitalen Einzeldaten, durch die das Datenzugriffsrecht der Prüfer nach § 147 Abs. 6 AO unmöglich gemacht worden sein sollte, bei summarischer Prüfung nicht gegeben war, da es schon an einer entsprechenden Einzelaufzeichnungspflicht fehlen würde. Denn eine Einzelaufzeichnungspflicht, wie sie sich in der Regel für buchführungspflichtige Kaufleute aus den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) ergibt, besteht für Gewerbetreibende, die ihren Gewinn durch EÜR ermitteln, nicht. Das FG konnte diese Frage aber offen lassen. Denn selbst wenn aus § 146 Abs. 1 Satz 1 AO eine Pflicht zur Einzelaufzeichnung ableitbar wäre, wäre diese in der im Streitfall maßgeblichen Fallgestaltung aus Zumutbarkeitsgründen suspendiert. Denn § 146 Abs. 1 Satz 3 AO sieht ausdrücklich vor, dass die Einzelaufzeichnungspflicht nach § 146 Abs. 1 Satz 1 AO"aus Zumutbarkeitsgründen" bei einem Verkauf von Waren an eine Vielzahl von nicht bekannten Personen gegen Barzahlung nicht gilt. Eine Einzelaufzeichnungspflicht ergibt sich nach Auffassung des FG auch nicht aus dem Umstand, dass der Steuerpflichtige in seinem Betrieb eine PC-Kasse eingesetzt hat. Insoweit folgt das FG nicht der von der Finanzverwaltung im BMF-Schreiben (BMF, Schreiben v.26.11.2010 IV A 4 – S 0316/08/10004-07, BStBl 2010 I S. 1342) vertretenen Auffassung. Im Streitfall ergab sich eine Schätzungsbefugnis des Finanzamts jedoch in jedem Fall aufgrund der vom Finanzamt festgestellten materiellen Fehler, die die Richtigkeitsvermutung des § 158 AO (Beweiskraft der Aufzeichnungen) widerlegen. Denn für das FG steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass die vom Steuerpflichtigen geführten Aufzeichnungen sachlich unzutreffend sind, weil Einnahmen einer zweiten Kasse verschwiegen wurden. Entsprechend war eine Schätzung geboten. Hinsichtlich der Höhe der Schätzungen folgt das FG im Grundsatz der vom Finanzamt gewählten Schätzungsmethode, hält aber eine Modifizierung der Berechnung und die Berücksichtigung eines Sicherheitsabschlags für erforderlich, weshalb dem Aussetzungsantrag des Steuerpflichtigen teilweise entsprochen wurde.
Hinweis
Nach § 146 Abs. 1 Satz 3 AO besteht die Pflicht zur Einzelaufzeichnung aus Zumutbarkeitsgründen bei Verkauf von Waren an eine Vielzahl von nicht bekannten Personen gegen Barzahlung nicht. Eine Ausnahme von den Zumutbarkeitserwägungen des Satzes 3 greift vorliegend nicht. Zwar sieht § 146 Abs. 1 Satz 4 AO vor, dass diese dann nicht greifen sollen, wenn ein elektronisches Aufzeichnungssystem im Sinne des § 146a AO verwendet wird. Zu beachten ist jedoch, dass § 146 Abs. 1 Satz 4 AO erst zum 31.12.2019 in Kraft getreten ist und somit im Streitfall (St...