Der Auffassung von Reiß und Nieskens entspricht auch die aktuelle finanzgerichtliche Rechtsprechung, die den Vorsteuerabzug bei der Einfuhrumsatzsteuer – unabhängig von Unregelmäßigkeiten bei der Anmeldung der Einfuhrumsatzsteuer – bejaht.
So entschied das FG Hamburg mit Urteil vom 19.12.2012 (allerdings aufgehoben durch den BFH, Az. V R 8/13, dazu s.u.), dass die festgesetzte Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuer gem. § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG abzugsfähig ist. Unregelmäßigkeiten bei der Anmeldung der Einfuhrumsatzsteuer im Rahmen des Zollverfahrens stünden dem nicht entgegen.
In dem zugrunde liegenden Sachverhalt entrichtete die Klägerin (neben den festgesetzten Einfuhrzöllen) die Einfuhrumsatzsteuer nur teilweise, begehrte jedoch gem. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 UStG einen Vorsteuerabzug. Das FG Hamburg begründete das Vorsteuerabzugsrecht mit richtlinienkonformer Auslegung des § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG. Daraus ergebe sich, dass die wirksam festgesetzte und deswegen entrichtete bzw. (alternativ) "geschuldete" Einfuhrumsatzsteuer abzugsfähig sei (vgl. Art. 168 Buchst. 2 i.V.m. Art. 201 MwStSystRL).
Entgegen dem damaligen Wortlaut in § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG setze das Unionsrecht für den Vorsteuerabzug nicht voraus, dass die Einfuhrumsatzsteuer entrichtet wurde. Denn der Steuerpflichtige soll durch den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Dazu verpflichte der Grundsatz der Neutralität, wonach sichergestellt sein muss, dass es im zwischenunternehmerischen Bereich nicht zu einer Belastung mit Umsatzsteuer kommt. Eine Ausnahme sei nur im Missbrauchsfall gerechtfertigt. Daher stelle der Wortlaut in der MwStSystRL alternativ auf "entrichtete" oder "geschuldete" Einfuhrumsatzsteuer ab.
Es verbiete sich daher – wie das FG Hamburg ausführt – dem Steuerpflichtigen auch nur für eine gewisse Zeit eine von ihm nicht zu tragende wirtschaftliche Belastung aufzuerlegen, indem er Einfuhrumsatzsteuer zahlen muss, bevor er sie nachfolgend wieder abziehen kann.
Nachdem die Klägerin in den Bescheiden als Schuldnerin der Einfuhrumsatzsteuer benannt wurde, waren nach unionsrechtskonformer Auslegung die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug gegeben. Auf die Entrichtung der Einfuhrumsatzsteuer kam es nicht an. Missbrauch lag nicht vor, weil die Voraussetzung für den Vorsteuerabzug – der Besitz des die Einfuhrumsatzsteuer festsetzenden Bescheids – gegeben war.
Zwar hob der BFH die Entscheidung des FG Hamburg in der Revision auf, die Begründung des Vorsteuerabzugsrechts wurde jedoch nicht beanstandet. Der BFH bestätigte vielmehr, dass das Vorsteuerabzugsrecht lediglich ein die Einfuhr bescheinigendes Dokument voraussetze und es auf die Entrichtung der Einfuhrumsatzsteuer für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG nicht ankomme.
Lediglich zum Zeitpunkt des Vorsteuerabzugsrechts stellte der BFH klar, dass das Recht auf Vorsteuerabzug für den Voranmeldungszeitraum auszuüben ist, in dem das Abzugsrecht entstanden ist und die Ausübungsvoraussetzungen vorliegen. Es bestehe kein Wahlrecht, erst zu einem späteren Zeitpunkt das Vorsteuerabzugsrecht geltend zu machen.
Der finanzgerichtlichen Rechtsprechung entspricht auch die steuerstrafrechtliche Rechtsprechung, die ebenfalls den Vorsteuerabzug im Zusammenhang mit Einfuhrumsatzsteuer anerkennt. Der BGH stellte in 2020 klar: "Die Steuerhinterziehung durch die unterlassene Versteuerung von eigenen Ausgangsumsätzen führt nicht zur Versagung des Vorsteuerabzugs für die entsprechenden Eingangsumsätze." (Leitsatz des Verfassers)
In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt standen den nicht angemeldeten Einfuhrlieferungen Eingangsumsätze gegenüber, für die ein Vorsteuerabzugsrecht gem. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 UStG bestand. Der nicht geltend gemachte Mehrbetrag an Umsatzsteuer auf die Einfuhren war im Rahmen der Berechnung der Steuerverkürzung abzuziehen. Dem stand auch das Kompensationsverbot gem. § 370 Abs. 4 S. 3 AO nicht entgegen. Denn nach neuerer Rechtsprechung besteht bei der Umsatzsteuer zwischen Eingangs- und Ausgangsumsätzen ein unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang dergestalt, dass die Eingangsumsätze keinen anderen Grund i.S.d. § 370 Abs. 4 S. 3 AO darstellen. Dies habe die Folge, dass die Vorsteuer aus dem Bezugsgeschäft bei der Berechnung der Steuerverkürzung gem. § 370 Abs. 4 S. 1 und 2 AO von Rechts wegen unmittelbar mindernd zu berücksichtigen ist.
Es stellt sich folglich auch für den BGH nicht die Frage, ob die Geltendmachung des Vorsteuerabzugs bei nicht angemeldeter Einfuhrumsatzsteuer ein "Missbrauch" i.S.d. EuGH ist, sondern die Berechtigung zum Vorsteuerabzug ist bei Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer ein gesetzlich vorgesehener Automatismus.