Leitsatz
Art. 28c Teil A Buchst. a Unterabs. 1 der 6. EG-RL ist in dem Sinn auszulegen, dass er der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats verwehrt, die Befreiung einer tatsächlich ausgeführten innergemeinschaftlichen Lieferung von der Mehrwertsteuer allein mit der Begründung zu versagen, der Nachweis einer solchen Lieferung sei nicht rechtzeitig erbracht worden.
Bei der Prüfung des Rechts auf Befreiung einer solchen Lieferung von der Mehrwertsteuer muss das vorlegende Gericht die Tatsache, dass der Steuerpflichtige zunächst bewusst das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung verschleiert hat, nur dann berücksichtigen, wenn eine Gefährdung des Steueraufkommens besteht und diese vom Steuerpflichtigen nicht vollständig beseitigt worden ist.
Normenkette
Art. 28c Teil A Buchst. a Unterabs. 1 der 6. EG-RL (§ 6a Abs. 3 UStG 1993, § 17a und § 17c UStDV)
Sachverhalt
Der Kläger verkaufte Vorführwagen an einen belgischen Händler; der Kaufvertrag wurde zwischen den beiden tatsächlich abgewickelt. Weil der Kläger Provisionsansprüche nur für Verkäufe an Abnehmer in der näheren Umgebung erhielt, wurde der Form halber ein Zwischenhändler S eingeschaltet. Damit übereinstimmend wurde umsatzsteuerrechtlich verfahren und die USt abgeführt. Eine Außenprüfung stellte den Sachverhalt fest und versagte S den Vorsteuerabzug, weil es an einer Lieferung fehle.
Der Kläger "stornierte" dann die entsprechenden Rechnungen. Nun erhöhte das FA die Umsätze des Klägers um diese Lieferungen, versagte aber die Steuerbefreiung, weil der Nachweis nicht ordnungsgemäß erbracht worden sei. Die Klage hatte keinen Erfolg.
Entscheidung
Der EuGH weist darauf hin, dass zwar im Streitfall berücksichtigt werden kann, dass die Einschaltung eines Zwischenhändlers, um einen Provisionsanspruch zu erlangen, nicht mit einer Steuerhinterziehung oder einer missbräuchlichen Anwendung der gemeinschaftlichen Regeln gleichgesetzt werden kann, wenn feststeht, dass der betreffende Umsatz nicht zur Erlangung eines ungerechtfertigten Steuervorteils getätigt wurde. Außerdem hindert das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran, die Verschleierung des Vorliegens eines innergemeinschaftlichen Umsatzes unter bestimmten Voraussetzungen als versuchte Mehrwertsteuerhinterziehung zu behandeln und in einem solchen Fall die nach ihrem nationalen Recht vorgesehenen Sanktionen wie Geldstrafe oder Geldbuße zu verhängen, die in angemessenem Verhältnis zur Schwere der missbräuchlichen Handlung stehen. Der BFH, der die Rechtsfrage vorgelegt hat, wird die Grundsätze im konkreten Fall umzusetzen haben. Die Besonderheit des Besprechungsfalls lag darin, dass keinerlei Gefährdung des USt-Aufkommens im Raum stand und allein nichtsteuerrechtliche Gründe für die Gestaltung maßgeblich waren. Anhaltspunkte dafür nachzuweisen, obliegt dem Unternehmer, der sich darauf beruft.
Hinweis
1. Zweifelhaft war, ob die Steuerfreiheit einer – unstreitig – tatsächlich ausgeführten innergemeinschaftlichen Lieferung allein mit der Begründung versagt werden darf, dass der Nachweis einer solchen Lieferung nicht rechtzeitig erbracht worden ist. Die 6. EG-RL enthält keinen Hinweis hinsichtlich der Nachweise für eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung. Art. 22 der 6. EG-RL regelt zwar bestimmte formelle Pflichten der Steuerschuldner in Bezug auf Aufzeichnungen, Rechnungen, Steuererklärungen und die der Finanzverwaltung vorzulegende Aufstellung, lässt aber nach Abs. 8 den Mitgliedstaaten Spielraum für weitere "Pflichten, die sie als erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern". Diese dürfen aber nicht über das Ziel (eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern) hinausgehen. Eine nationale Maßnahme, die die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung allein von der Einhaltung formeller Pflichten abhängig macht, ohne die materiellen Anforderungen zu berücksichtigen, geht über das Ziel hinaus, wenn – wie im Vorlagefall – feststeht, dass die innergemeinschaftliche Lieferung bewirkt worden ist und keinerlei Gefährdung der USt zu befürchten ist. (Nur) unter solchen Voraussetzungen kann auch noch eine nachträgliche Änderung der Buchführung anzuerkennen sein.
2. Der EuGH betont, dass die Antwort auf die Frage, wann ein verspäteter Buch- und Belegnachweis bei unstreitigem Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erheblich ist, davon abhängt, ob eine Gefährdung des Steueraufkommens des betroffenen Mitgliedstaats bestehen konnte. Das hat das nationale Gericht unter Berücksichtigung aller erheblichen Umstände zu prüfen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob die Verschleierung des Vorliegens einer innergemeinschaftlichen Lieferung und die daraus folgende Verzögerung bei der Korrektur der jeweiligen Buchungen Züge einer Mehrwertsteuerhinterziehung hat. Denn nach ständiger Rechtsprechung ist eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht nicht erlaubt.
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