Leitsatz
1. Der Vertretungszwang gem. § 62 Abs. 4 FGO gilt auch bei Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer nach § 198 GVG, für die in Bezug auf finanzgerichtliche Verfahren ausschließlich der BFH zuständig ist (§ 155 Satz 2 FGO).
2. Der Vertretungszwang verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Art. 6 EMRK.
Normenkette
§ 62 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4, § 155 Satz 2 FGO; § 198 GVG; Art. 6 EMRK; Art. 2, Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 47 Abs. 2 EUGrdRCh
Sachverhalt
Der nicht postulationsfähige Kläger beantragte beim BFH, das Land Berlin zu verurteilen, ihm wegen der unangemessenen Dauer eines von ihm geführten finanzgerichtlichen Verfahrens eine Entschädigung zu gewähren. Er war der Auffassung, der Vertretungszwang gelte nicht bei den Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer und verstoße zudem gegen höherrangiges Recht.
Entscheidung
Der BFH hat die Entschädigungsklage als unzulässig verworfen, da sie nicht von einer postulationsfähigen Person oder Gesellschaft erhoben wurde.
Hinweis
1. Durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 hat der deutsche Gesetzgeber die Aufforderung des EGMR zur Einführung eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen überlange Gerichtsverfahren fristgerecht mit Wirkung auch für die Finanzgerichtsbarkeit umgesetzt und einen neuen verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch eingeführt (vgl. §§ 198ff. GVG).
2. In Bezug auf die finanzgerichtlichen Verfahren ist ausschließlich der BFH zuständig (§ 155 Satz 2 FGO). Die Zuständigkeit innerhalb des BFH wurde dem X. Senat zugewiesen (mit Ausnahme der Zuständigkeit für die diesen Senat betreffenden Entschädigungsklagen; hier ist der VII. Senat zuständig). Der BFH wird in diesen Verfahren ausnahmsweise erstinstanzlich und damit auch als Tatsacheninstanz tätig. Dementsprechend sind gem. § 155 Satz 2 2. Halbs. FGO die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug entsprechend anwendbar.
3. Das bedeutet aber nicht, dass bei den Entschädigungsklagen vor dem BFH der Vertretungszwang entfällt. Auch in diesen Verfahren sind die allgemeinen Verfahrensvorschriften des Zweiten Teils der FGO, zu denen der in § 62 Abs. 4 FGO normierte Vertretungszwang gehört, anzuwenden.
4. Der Vertretungszwang verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Art. 6 EMRK. Es ist anerkannt, dass der Zugang zum Gericht durch Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht absolut gewährleistet wird, sondern inhärenten Beschränkungen unterliegt. Dabei darf jedoch die in Art. 6 EMRK gegebene Garantie nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden. Die Beschränkungen müssen im Interesse einer geordneten Rechtspflege erforderlich sein, ein berechtigtes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein. Die Zulässigkeit dieser Einschränkungen wird sowohl vom BFH als auch vom EGMR in Bezug auf den Vertretungszwang bejaht.
5. Dass der Vertretungszwang weder gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verstößt noch gegen Art. 47 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta, hat der BFH bereits mehrfach entschieden (vgl. jüngst Beschluss vom 19.1.2012, VI B 98/11, BFH/NV 2012, 759). Das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, nimmt den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit, aus verfahrensökonomischen Gründen vor bestimmten Gerichten einen Vertretungszwang vorzusehen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 6.2.2013 – X K 11/12