Leitsatz
Ein Urteil ist nicht mit Gründen versehen, wenn es auf die Einspruchsentscheidung verweist, diese sich jedoch nicht zu allen Argumenten verhält, mit denen der Kläger selbstständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel vorgebracht hat.
Normenkette
§ 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO , § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO
Sachverhalt
Das FA hatte die zur ESt mit ihrem Ehemann zusammen veranlagte Klägerin schriftlich aufgefordert, die festgesetzten Nachzahlungsbeträge zu entrichten. Den dagegen erhobenen Einspruch verwarf es als unzulässig, weil das Schreiben kein Verwaltungsakt sei. Das FG wies die Klage mit dem Begründungssatz ab, das FA habe in der Einspruchsentscheidung dargelegt, dass die Zahlungsaufforderung kein Verwaltungsakt und folglich kein Klageverfahren möglich sei.
Entscheidung
Der BFH hat das Urteil wegen Fehlens von Gründen aufgehoben. Er hat eine Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Klägerin vermisst, mit dem Schreiben des FA seien auch getilgte Beträge angefordert worden, weshalb es sich doch um einen Verwaltungsakt handele. Ferner hält es der BFH für erforderlich, zu dem Einwand Stellung zu nehmen, die Einspruchsentscheidung habe nicht zugleich gegen den Ehemann ergehen dürfen und sei wegen der Verbindung des Verfahrens der Klägerin mit dem Einspruchsverfahren des Ehemannes unwirksam.
Ohne es ausdrücklich zu sagen, sieht der BFH darin offenbar selbstständige Verteidigungsmittel. Man wird freilich darüber streiten können, ob dem oben unter 3 a) Abs. 3 aufgestellten Grundsatz Genüge getan worden ist.
Hinweis
1. Das Urteil eines (deutschen) Gerichts muss Entscheidungsgründe enthalten, die sich mit allen selbstständigen Ansprüchen und allen selbstständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln auseinandersetzen, die der Kläger vorgebracht hat. Fehlt es daran, wurde ein Urteil bis zum In-Kraft-Treten des 2. FGOÄndG auf die zulassungsfreie Verfahrensrevision hin aufgehoben und kann es heute erfolgreich mit einer Nichtzulassungsbeschwerde zu Fall gebracht werden (die vorgenannte zulassungsfreie Verfahrensrevision ist seit 1.1.2001 abgeschafft). Dies gilt auch dann, wenn die Begründung inhaltslos oder unverständlich ist und nicht erkennen lässt, von welchen Erwägungen das Gericht ausgegangen ist, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Erwägungen seine Entscheidung also beruht.
2. Allerdings gewährt § 105 Abs. 5 FGO dem Gericht eine Begründungserleichterung: es kann von einer "weiteren" (nicht von jeder!) Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, wenn es der Begründung des angefochtenen Verwaltungsakts oder derjenigen der Einspruchsentscheidung folgt und dies in den Entscheidungsgründen feststellt.
3. Diese auf den ersten Blick klaren Regelungen bergen freilich zwei Probleme:
a) Wann ist ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel selbstständig? Der BFH beantwortet diese Frage im Allgemeinen formal: das Angriffs- oder Verteidigungsmittel muss den vollständigen Tatbestand einer Norm ausmachen (Beispiel: Einwand der Verjährung = § 169 AO; nicht: die Finanzbehörde sei nicht zuständig gewesen = einzelnes Merkmal des § 169 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 AO). Diese Betrachtungsweise setzt allerdings die Anforderungen an eine erfolgreiche Revisionsrüge hoch an und ist vor allem zweifelhaft, weil sie es unter Umständen von redaktionellen Zufälligkeiten bei der Gesetzesfassung abhängen lässt, ob etwas in den Gründen eines Gerichtsurteils erörterungsbedürftig ist oder nicht.
Beachten Sie in diesem Zusammenhang ferner, dass die Rechtsprechung des BFH die Rüge mangelhafter Begründung nur dann durchgreifen lässt, wenn es um einen Punkt geht, der vor dem FG ein wesentlicher Streitpunkt war. Nur worüber dort gestritten worden ist, müssen die Entscheidungsgründe erörtern.
Schließlich wird man eine Begründung da nicht fordern können, wo Einwände der Beteiligten sich bei verständiger rechtlicher Würdigung ohne weiteres als nicht nachvollziehbar, völlig neben der Sache liegend oder sonst offensichtlich unzutreffend erweisen, mit anderen Worten: zur Begründung der Klage nicht "geeignet" sind. Denn der Aufhebung sollen im Allgemeinen nur solche Urteile anheim fallen, die (möglicherweise) im Ergebnis nicht richtig sind (Rechtsgedanke des § 126 Abs. 4 FGO).
b) Welche eigenständige Minimalbegründung ist erforderlich und was gehört zur (durch Bezugnahme ersetzbaren) "weiteren" Begründung? Diese Frage ist bislang völlig offen. Nach dem Sinn des § 105 Abs. 5 FGO wird man an die Minimalbegründung m.E. nur ganz geringe Anforderungen stellen können. Das Besprechungsurteil verlangt allerdings eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Verwaltungsakt/die Einspruchsentscheidung (oder sogar, noch förmelnder, die Wiederholung der Gesetzesworte, dass das FG "der Begründung des .... folgt"?).
4. Es begreift sich, dass eine Bezugnahme nur dann die Entscheidungsgründe (teilweise) ersetzen kann, wenn sie ihrerseits das enthält, was § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO von den Entscheidungsgründen verlangt, also zumindest die Erörterung aller selbstständigen Ansprüche und aller selbst...