Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Der BFH kann mit Einverständnis der originär Beteiligten auch dann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, wenn das dem Verfahren beigetretene BMF auf eine solche nicht verzichtet hat.
2. Der erkennende Senat hält an der bisherigen Rechtsprechung des BFH, wonach Aufwendungen nach § 33 EStG nur abzugsfähig sind, wenn die medizinische Indikation der ihnen zugrunde liegenden Behandlung durch ein amtsärztliches oder vertrauensärztliches Gutachten oder ein Attest eines anderen öffentlich-rechtlichen Trägers nachgewiesen ist, nicht länger fest (Änderung der Rechtsprechung).
3. Die erforderlichen Feststellungen und Würdigungen sind vielmehr vom FG nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung zu treffen. Dabei wird es mangels medizinischer Sachkunde seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung regelmäßig durch die Erhebung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens gerecht.
4. Von den Beteiligten vorgelegte Sachverständigengutachten sind im finanzgerichtlichen Verfahren als Privatgutachten zu behandeln und damit lediglich als urkundlich belegter Parteivortrag zu würdigen.
5. Der Verzicht auf die Inanspruchnahme von staatlichen Transferleistungen steht dem Abzug von Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 EStG nicht entgegen.
Normenkette
§ 33a Abs. 1 EStG, § 57, § 90 i.V.m. § 121 S. 1, § 122 FGO, Art. 103 Abs. 1 GG
Sachverhalt
Therapeuten und Mediziner diagnostizierten beim J, dem Sohn der Kläger, eine schwere Lese- und Rechtschreibschwäche. Die Kläger folgten der Empfehlung, J einer fachlich versierten Schule mit angeschlossenem Internat anzuvertrauen. Ein Jugendpsychiater diagnostizierte eine seelische Behinderung i.S.d. § 35a SGB VIII. Mit der ESt-Erklärung machten die Kläger die Kosten für Js Internatsunterbringung nach § 33 Abs. 1 EStG geltend: Schulbeitrag (1 416 EUR), Unterkunft, Verpflegung, Betreuung (13 620 EUR), Legasthenietherapie (4 908 EUR) von insgesamt 19 944 EUR.
Weder FA noch FG (Hessisches FG, Urteil vom 31.01.2008, 9 K 1661/05, Haufe-Index 2248122) entsprachen dem.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung aus den unter Praxis-Hinweise dargestellten Erwägungen auf und verwies die Sache an das FG zurück.
Hinweis
Das Besprechungsurteil enthält neben der verfahrensrechtlichen Frage zum Verzicht auf mündliche Verhandlung durch den beigetretenen (dazu auch BFH, Urteil vom 11.11.2010, VI R 16/09, BFH/NV 2011, 501, BFH/PR 2011, 132) eine grundlegende Änderung der Rechtsprechung im Bereich der außergewöhnlichen Belastungen (Leitsätze 2–4). Aufwendungen zu medizinischen Zwecken der Heilung oder Milderung einer Krankheit erwachsen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig i.S.d. § 33 EStG. Aber zum Nachweis dieses medizinischen Zwecks forderte die Rechtsprechung bisher die Vorlage eines zeitlich vor der Leistung von Aufwendungen erstellten amts- oder vertrauensärztlichen Gutachtens oder Attestes eines anderen öffentlich-rechtlichen Trägers (bisherige Rechtsprechung im Besprechungsurteil nachgewiesen). An diesem auf die Beweisebene bezogenen Sonderrecht ("formalisiertes Nachweisverlangen"), das Beweismittel beschränkt und deshalb dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung widerspricht, hält der BFH zu Recht nicht mehr länger fest.
1. Es lässt sich kein Generalverdacht dahingehend begründen, dass die Ärzteschaft Gefälligkeitsgutachten erstellt. Und ohnehin wäre ein von einem Beteiligten vorgelegtes Sachverständigengutachten im finanzgerichtlichen Verfahren lediglich als Privatgutachten zu behandeln und damit allenfalls als urkundlich belegter Parteivortrag zu würdigen. Nicht nur der Amtsarzt oder Medizinische Dienst einer öffentlichen Krankenversicherung (§ 278 SGB V), sondern grundsätzlich jeder Mediziner kann die erforderliche Sachkunde und Objektivität besitzen, um medizinische Indikationen sachverständig beurteilen zu können.
2. Weiter ist kein Gutachten mehr vor Beginn einer medizinischen Behandlung notwendig. Der BFH kehrt auch insoweit zu den allgemeinen Beweisregeln zurück: Der Steuerpflichtige hat die Entstehung außergewöhnlicher Belastungen nachzuweisen, er trägt das Risiko, dass ein gerichtlich bestellter Sachverständiger im Nachhinein die medizinische Indikation der streitigen Behandlung möglicherweise nicht mehr verlässlich feststellen kann. Dem kann er begegnen, wenn er vor Beginn der Behandlung auf eigene Initiative ein amts- oder vertrauensärztliches Zeugnis einholt oder im selbstständigen Beweisverfahren (§ 155 FGO, §§ 485 ff. ZPO) die medizinische Indikation der Heilbehandlung feststellen lässt. Der BFH erinnert an die Rechtsprechung des BVerfG zum "Oder-Konto" und entnimmt daraus, dass eine vorherige Begutachtung nicht zum ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal erhoben werden darf.
3. Hier wird das FG unter Beachtung der vorgenannten Grundsätze im zweiten Rechtsgang ggf. durch Erhebung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens zu prüfen haben, ob die Legasthenie Krankheitswert besitzt. Falls ja, sind auch die Kosten einer auswärtigen Internatsunterbringung zu berücksi...