Leitsatz
1. Nach dem das Strafverfahren beherrschenden Legalitätsprinzip sind die Strafverfolgungsbehörden grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, nach Eingang einer Selbstanzeige ein Strafverfahren zum Zweck der Prüfung der Straffreiheit gem. § 371 Abs. 1 und 3 AO einzuleiten. Eine derartige Strafverfahrenseinleitung hemmt den Anlauf der Frist zur Festsetzung von Hinterziehungszinsen gem. § 239 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO.
2. Ausnahmsweise hemmt aber eine Strafverfahrenseinleitung, die sich nach den für die Strafverfolgungsbehörden zum Zeitpunkt der Einleitung bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen als greifbar rechtswidrig darstellt, den Anlauf der Festsetzungsfrist nicht.
Normenkette
§ 169 Abs. 1 S. 1, § 235 Abs. 1 S. 1, § 239 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 371 Abs. 1 und 3, § 385 Abs. 1, § 386 Abs. 2, § 397 Abs. 1, § 399 Abs. 1 AO, § 152 Abs. 2, § 160 Abs. 1, § 170 Abs. 2 StPO
Sachverhalt
Der Kläger und Revisionskläger berichtigte mit Schreiben vom 14.09.1998 an das beklagte FA seine ESt-Erklärungen für 1987 bis 1996 und gab bislang nicht erfasste Einkünfte aus Kapitalvermögen an. Ferner legte er berichtigte Anlagen KSO sowie Bankbescheinigungen vor. Das FA behandelte das Schreiben als Selbstanzeige und gab es am folgenden Tag urschriftlich an die zuständige Steuerfahndungsstelle (Steufa) mit der Bitte um Kenntnisnahme und weitere Veranlassung weiter.
Die Steufa begann mit Ermittlungsauftrag vom 30.09.1998, die steuerlichen Verhältnisse des Klägers im Rahmen seiner Selbstanzeige zu prüfen. Sie unterrichtete ferner die Straf- und Bußgeldsachenstelle (Strabu) am 08.10.1998 über die in Kopie beigefügte Selbstanzeige. Letztere verfügte am 13.10.1999 die Einleitung des Strafverfahrens gegen den Kläger wegen des Verdachts der ESt-Hinterziehung ab 1987. In einem Aktenvermerk vom 05.01.1999 sah die Steufa die Selbstanzeige als wirksam an, weshalb sie kein Verfahren einleitete, und unterrichtete die Strabu davon. Letztere stellte mit Verfügung vom 24.03.1999 das Verfahren wegen des Verdachts der ESt-Hinterziehung 1989 bis 1992 mit der Begründung ein, es liege eine wirksame Selbstanzeige vor.
Noch während der Prüfung durch die Steufa hatte das FA mit Bescheiden vom 12.10.1998 die ESt-Festsetzungen 1987 bis 1996 auf der Grundlage der klägerischen Angaben geändert. Die Bescheide wurden bestandskräftig, und der Kläger zahlte die Mehrsteuern. Die von der Steufa für die Jahre 1989 bis 1992 vorgenommenen Korrekturen berücksichtigte das FA durch eine nochmalige Bescheidänderung.
Mit Bescheid vom 31.03.2000 setzte das FA Hinterziehungszinsen i.H.v. 33 332 DM fest. Berechnungsgrundlage waren die in den ESt-Änderungsbescheiden vom 12.10.1998 festgesetzten Mehrsteuern. Als Beginn des Zinslaufs bestimmte das FA jeweils das Datum des Erlasses der Erstbescheide.
Mit dem Einspruch machte der Kläger geltend, das FA habe wegen Ablaufs der einjährigen Festsetzungsfrist keine Hinterziehungszinsen mehr festsetzen dürfen. Mangels Einleitung eines Strafverfahrens i.S.d. § 239 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO sei keine Anlaufhemmung eingetreten.
Entscheidung
Der BFH hob das Urteil des FG (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2005, 1 K 354/03, Haufe-Index 1479814, EFG 2006, 474) auf und gab der Klage teilweise statt.
Die Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur ESt 1992 bis 1996 sei dem Grund nach rechtmäßig, weil die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen gewesen sei. Die Strabu habe am 13.10.1998 unter Bezugnahme auf die Selbstanzeige des Klägers förmlich die Einleitung des Strafverfahrens wegen des Verdachts der ESt-Hinterziehung verfügt. Dadurch sei für die fünf Vergehen der ESt-Hinterziehung 1992 bis 1996 in rechtmäßiger Weise ein Strafverfahren i.S.d. § 397 Abs. 1 AO eingeleitet worden und der Anlauf der Frist zur Festsetzung der Hinterziehungszinsen insoweit gehemmt worden. Es sei insbesondere zulässig, das Strafverfahren allein zur Prüfung der Frage einzuleiten, ob der Kläger mit Abgabe seiner Berichtigungserklärung Straffreiheit gem. § 371 AO erlangt habe.
Entgegen der klägerischen Vorstellung habe es sich auch nicht um eine bloße Scheinmaßnahme gehandelt. Das FA sei keinesfalls gehalten gewesen, die Wirksamkeit der Selbstanzeige außerhalb des regulären Ermittlungsverfahrens in einer Art Vorprüfung zu untersuchen und insoweit zunächst die Einleitung des Strafverfahrens zurückzustellen. Eine derartige Verfahrensweise wäre mit dem das Strafverfahren beherrschenden Legalitätsprinzip (§ 385 Abs. 1 AO i.V.m. § 152 Abs. 2, § 160 Abs. 1 StPO) nicht zu vereinbaren. Das Legalitätsprinzip verpflichte die Strafverfolgungsbehörden, wegen aller verfolgbarer Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorlägen (sog. Anfangsverdacht). Es stehe nicht im Belieben der Strafverfolgungsorgane, bloße Vor-Ermittlungen anzustellen.
Derartige im Gesetz nicht ausdrücklich geregelte, aber zulässige Maßnahmen dienten in der Strafverfolgungspraxis der Klärung der Frage, ob ein Anfangsverdacht vorliege. Sei, wie im Streitfall, ein solcher aber unzwe...