Rz. 26
Einheitlicher Missbrauchsbegriff im Unionsrecht? Der Begriff des Missbrauchs findet sich im Unionsrecht und in der Rechtsprechung des EuGH an verschiedenen Stellen. Einerseits entfaltet der Missbrauchsbegriff Bedeutung bei der Rechtfertigung von Grundfreiheitseinschränkungen (vgl. Rz. 96 ff.). Zum anderen ist er in der Rechtsprechung des EuGH als allgemeiner Grundsatz anerkannt (vgl. Rz. 22 ff.). Schließlich findet sich der Missbrauchsbegriff aber auch in Richtlinienbestimmungen (vgl. Rz. 45 ff.). Diese Richtlinienbestimmungen unterscheiden sich darüber hinaus ihrem Wortlaut nach zum Teil voneinander, unterscheiden sich aber auch teilweise von den Urteilen des EuGH zur Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen und vom allgemeinen Grundsatz. Ungeachtet dieser Heterogenität war und ist der EuGH gleichwohl stets bemüht, den Missbrauchsbegriff im gesamten Unionsrecht einheitlich auszulegen. So hat der EuGH vielfach betont, dass Missbrauchsklauseln in Richtlinien (lediglich) den allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots widerspiegeln bzw. – gleichbedeutend – dass das Ziel der Missbrauchsvermeidung im Primärrecht und im Sekundärrecht dieselbe Tragweite habe. Diese Spiegelung des allgemeinen Grundsatzes in Richtlinienbestimmungen soll dabei offenbar nicht nur die Verpflichtung zur Bekämpfung von Missbrauch an sich, sondern auch dessen inhaltliche Voraussetzungen erfassen. Prominentes Beispiel ist die Rechtsprechung zur Auslegung des Art. 11 Abs. 1 Buchst. a FRL a.F. (heute Art. 15 Abs. 1 Buchst. a FRL), den der EuGH entgegen seinem Wortlaut im Sinne seiner bisherigen Rechtsprechung zum Missbrauchsbegriff im Primärrecht ausgelegt und hervorgehoben hat, dass der Missbrauchsbegriff in Art. 11 Abs. 1 Buchst. a FRL a.F. (nahezu inhaltsgleich Art. 15 Abs. 1 Buchst. a FRL) und der Missbrauchsbegriff als Rechtfertigungsgrund bei den Grundfreiheiten einen identischen Inhalt habe. Diese Bestrebungen einer Vereinheitlichung des Missbrauchsbegriffs finden sich schließlich auch in den jüngsten Urteilen der Großen Kammer in den Danish Cases wieder, in denen durch vielfältige Querverweise und eine (gleichwohl verwirrende) parallele Verwendung verschiedentlich in der früheren Rechtsprechung und in Richtlinienbestimmung verwendeter Begriffe wohl zum Ausdruck gebracht werden soll, dass ungeachtet begrifflicher Feinheiten der Maßstab für die Missbrauchsprüfung und die Tatbestandsvoraussetzungen eines Missbrauchs im Primärrecht und Sekundärrecht grundsätzlich einheitlich sind. Der Wortlaut einer sekundärrechtlichen Missbrauchsvermeidungsnorm hat daher für den EuGH – wie allgemein methodisch zu beobachten ist und angesichts der verschiedenen verbindlichen Sprachfassungen (vgl. Art. 55 EUV) ein Stück weit auch nachvollziehbar ist – keine ausschlaggebende Bedeutung. Darüber hinaus hat der EuGH schließlich auch in den Danish Cases eine Berufung auf die Grundfreiheiten schlicht mit dem Hinweis abgelehnt, dass bei Eingreifen des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots auch die Vorteile aus den Grundfreiheiten zu versagen sind; ob damit bereits die Anwendbarkeit oder erst die Rechtfertigung angesprochen ist, erscheint unklar, wobei aber die letztlich den Unterschied ausmachende Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch im Falle einer Verortung im Rahmen der Anwendbarkeit bestünde (vgl. Rz. 25.1). Insbesondere basierend auf den Grundsätzen in den Danish Cases ist daher – trotz jeglicher in der Sache berechtigter Kritik – jedenfalls in der Praxis zu erwarten, dass der EuGH auch weiterhin den Rechtfertigungsgrund bei den Grundfreiheiten und die Missbrauchsklauseln in Richtlinien i.S.d. allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots einheitlich auslegen wird (s. zum Verhältnis zur bisherigen Rechtsprechung Rz. 32). Das mag man unionsrechtsdogmatisch aus der Auslegungsfunktion primärrechtlicher allgemeiner Grundsätze herleiten können, in deren Rang der EuGH auch den Grundsatz des Missbrauchsverbots erhoben hat. Dies soll der Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung der Richtlinien als auch des harmonisierten (nationalen) Steuerrechts dienen. Voraussetzung ist aber stets, dass der Unionsgesetzgeber nicht in zulässiger Weise abschließend von seinem Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht und den Missbrauchsbegriff inhaltlich konkretisiert hat (vgl. Rz. 25); dies durch Auslegung festzustellen, ist Aufgabe des EuGH. Als Vorfrage bleibt aber weiterhin zu klären, ob und wie weit es wirklich im Gestaltungsspielraum des Unionsgesetzgebers liegt, von den Vorgaben eines primärrechtlichen allgemeinen Grundsatzes abzuweichen und ab wann eine solche sekundärrechtliche Abweichung oder Konkretisierung vom EuGH respektiert würde. Jedenfalls bei Art. 15 Abs. 1 Buchst. a FRL hat der EuGH einen solchen Willen offenbar nicht erkannt. In Bezug auf Art. 1 Abs. 2 MTR und Art. 6 ATAD wird der EuGH zu klären haben, ob der Unionsgesetzgeber insoweit den Missbrauchsbegriff konkretisieren wollte