Rz. 8
Fragestellung. Sind die Einwirkungsformen des Unionsrechts auf das nationale Recht geklärt, so stellt sich angesichts der verschiedenen Rechtsquellen des Unionsrechts aber die Frage, welche Rechtsnorm des Unionsrechts den Prüfungs- und Auslegungsmaßstab für § 50d Abs. 3 EStG liefert, wenn mehrere Unionsrechtsnormen inhaltliche Vorgaben für § 50d Abs. 3 EStG machen. Das ist gerade auch für § 50d Abs. 3 EStG von Bedeutung, da dieser im (potenziellen) Einfluss von verschiedenen Unionsrechtsnormen des Primärrechts als auch des Sekundärrechts steht (vgl. Rz. 1). Es geht dabei um das Verhältnis bzw. die Konkurrenz von Primärrecht und Sekundärrecht (insb. Richtlinien) als gedankliche Vorfrage zur konkreten Einwirkung des "Unionsrechts" (m.a.W.: welchen"Unionsrechts"?) auf das nationale Recht. Die Einzelfragen als auch Grundlagenfragen dieses Verhältnisses von Sekundärrecht zum Primärrecht sind bislang in weiten Teilen noch ungeklärt. Gleichwohl soll nachfolgend ein grundlegender Überblick gegeben werden, wobei – für die Praxis – von der bislang hierzu ergangenen Rechtsprechung des EuGH auszugehen ist. Vor diesem Hintergrund wird man bei der Beantwortung dieser Vorfrage folgende Erwägungen berücksichtigen müssen:
Rz. 9
Primärrecht als Prüfungs- und Auslegungsmaßstab für Sekundärrechtsakte . Das Sekundärrecht steht laut Rechtsprechung des EuGH normenhierarchisch im Rang unterhalb des Primärrechts, sodass das Primärrecht zunächst Prüfungs- und Auslegungsmaßstab für das Sekundärrecht ist. Danach ist auch der Unionsgesetzgeber bei dem Erlass von Sekundärrechtsakten prinzipiell an das (höherrangige) Primärrecht gebunden, hat aber – nach der Rspr. des EuGH – zur integrationspolitischen Weiterentwicklung des (weiten) EU-Primärrechts einen gewissen Gestaltungs- und Konkretisierungsspielraum. Das Sekundärrecht (z.B. eine Richtlinie) ist daher auch nur insoweit im Lichte des Primärrechts auszulegen (primärrechtskonforme Auslegung), wie der Unionsgesetzgeber nicht zulässigerweise von seinem Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat. So stellt sich etwa im Bereich des § 50d Abs. 3 EStG die Frage, ob der Unionsgesetzgeber bei der Gestaltung der sekundärrechtlichen Missbrauchsvermeidungsvorschriften des Art. 1 Abs. 2 MTR, Art. 5 ZLR oder Art. 6 ATAD von dem Missbrauchsbegriff des Primärrechts i.S.d. allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots abweichen wollte (vgl. Rz. 26, 50, 59, 63). Von dem rechtstheoretischen (Ordnungs-)Verhältnis der normenhierarchischen Untergliederung der einzelnen Rechtsquellen ist aber die Frage zu unterscheiden, ob eine konkrete Norm des Primärrechts den Unionsgesetzgeber als Adressaten bestimmt und in der Sache auch inhaltliche Vorgaben für Sekundärrechtsakte aufstellt; nur wenn diese Frage bejaht wird – was durch Auslegung zu ermitteln ist –, ist die konkret untersuchte Norm des Primärrechts auch wirklich Auslegungs- und Prüfungsmaßstab für eine Sekundärrechtsnorm. Grundsätzliche als auch konkrete Fragen der Gültigkeit bzw. Wirksamkeit sekundärrechtlicher Normen (insb. der MTR, ZLR, ATAD) stehen – auch wenn sie im Einzelnen diskussionswürdig sein mögen – nicht im Vordergrund dieser Kommentierung. Die Primärrechtskonformität der relevanten Richtlinienbestimmungen soll daher im Folgenden unterstellt werden. Von Bedeutung werden hingegen Fragen der Einwirkung des Primärrechts auf die Auslegung des Sekundärrechts und des harmonisierten nationalen Rechts sein (dazu Rz. 10 ff.).
Rz. 10
Primärrecht als Prüfungs- und Auslegungsmaßstab für harmonisiertes nationales Recht . Erlässt der nationale Gesetzgeber zur Umsetzung (primärrechtskonformer) Zielvorgaben einer Richtlinie nationales (Umsetzungs-)Recht, so stellt sich die Frage, ob der nationale Gesetzgeber bei der Gestaltung seiner Rechtsordnung nicht nur die Zielvorgaben der Richtlinie, sondern auch (weiterhin) die Grundfreiheiten beachten muss. Dies betrifft die Konkurrenz von Grundfreiheiten (Primärrecht) und Sekundärrecht als Maßstab des nationalen Rechts. Diese Fragestellung spielt nur dann eine Rolle, wenn das nationale Recht (i) eine Beschränkung der Grundfreiheiten beinhaltet und (ii) sich dabei zugleich im sachgegenständlichen Harmonisierungsbereich (Anwendungsbereich) einer Richtlinie bewegt bzw. eine konkrete Zielvorgabe einer Richtlinie umsetzt. Die Fragestellung wird dann akut, wenn die betreffende nationale Norm mit den Vorgaben der Richtlinie vereinbar, mit den Vorgaben der Grundfreiheiten hingegen unvereinbar ist. Übertragen auf § 50d Abs. 3 EStG: Ist § 50d Abs. 3 EStG unionsrechtskonform, wenn er – je nach betroffener Rechtsgrundlage (vgl. Rz. 12 ff.) – mit Art. 1 Abs. 2 MTR, Art. 5 ZLR oder Art. 6 ATAD vereinbar, aber am (isoliert primärrechtlichen) Maßstab der Grundfreiheiten nicht zu rechtfertigen ist? Diese Frage stellt sich dann, wenn man die in den genannten Richtlinienbestimmungen enthaltenen sekundärrechtlichen Missbrauchsbegriffe anders (i.S.v.: weiter) auslegt als denjenigen...