1. Anwendungsbereich, Abgrenzungen (Konkurrenzen)
Rz. 107
Überblick und Bedeutung. Die Regelung des § 50d Abs. 3 EStG beschränkt grundsätzlich auch die Kapitalverkehrsfreiheit (s. zum Anwendungsbereich Rz. 108 ff.; zur Abgrenzung gegenüber anderen Grundfreiheiten Rz. 109 ff.; zur Beschränkung und Rechtfertigung Rz. 116 f.). Das ist von besonderer Bedeutung, sofern der von § 50d Abs. 3 EStG versagte Entlastungsanspruch von einer Drittstaatengesellschaft geltend gemacht wird. Insoweit ist § 50d Abs. 3 EStG auch im Verhältnis zu Drittstaaten am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit zu rechtfertigen und unionsrechtskonform auszulegen. Hält sich § 50d Abs. 3 EStG in diesem Fall nicht in den Grenzen des unionsrechtlichen Missbrauchsbegriffs und damit nicht in den Grenzen einer möglichen Rechtfertigung, ist § 50d Abs. 3 EStG auch im Drittstaatenfall wegen Verstoßes gegen Unionsrecht (teilweise) unanwendbar.
Rz. 108
Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit. In persönlicher und territorialer Hinsicht ist die Kapitalverkehrsfreiheit universell anwendbar, d.h. auch Drittstaatengesellschaften ohne Sitz oder Ort der Geschäftsleitung in einem Mitgliedstaat können sich persönlich auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen. Im Fokus der Kapitalverkehrsfreiheit steht der Kapitalverkehr als solcher, also der sachliche Anwendungsbereich. Kapitalverkehr i.S.d. Art. 63 AEUV ist die Übertragung von Sach- und Geldkapital, das in erster Linie der Investition der übertragenen Vermögenswerte dient und nicht nur die Vergütung einer Waren- oder Dienstleistung darstellt (vgl. Rz. 115). Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH erfasst der Begriff des Kapitalverkehrs insbesondere "Direktinvestitionen in Form der Beteiligung an einem Unternehmen durch Besitz von Aktien, die die Möglichkeit verschafft, sich tatsächlich an der Verwaltung dieser Gesellschaft und deren Kontrolle zu beteiligen (sogenannte Direktinvestitionen), sowie den Erwerb von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt allein in der Absicht einer Geldanlage, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss nehmen zu wollen (sogenannte Portfolioinvestitionen)". Zudem fällt das Erzielen von Dividenden aus solchen Beteiligungen unter den Begriff des Kapitalverkehrs, da der Dividendenbezug notwendigerweise das Bestehen einer Beteiligung voraussetzt und daher "untrennbar mit einer Kapitalbewegung verbunden" ist. Die Dividende ist letztlich die Rendite der Investition in eine Beteiligung und muss daher vom Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit umfasst sein. Aus der Rechtsprechung des EuGH ist daher eine "Theorie der erweiterten Kausalkette" abzuleiten, wonach eine nationale Norm auch dann den freien Kapitalverkehr beschränkt, wenn sie die Besteuerung der Erträge (z.B. Dividenden, Zinsen) aus der Kapitalanlage betrifft und damit mittelbar auch die Entscheidung für den eigentlichen Investitionsakt (z.B. Erwerb einer Beteiligung, Ausreichung eines Darlehens) beeinflusst. Ebenso fällt die Vergabe von Darlehen und Krediten unter den Begriff des Kapitalverkehrs. Das FG Köln hat mit Urteil v. 23.1.2019 auch die Zeichnung von Wandelanleihen unter den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit gefasst. Darüber hinaus ist in Anknüpfung an die Nomenklatur der Kapitalverkehrs-RL auch die Lizenzierung von gewerblichen Schutzrechten (z.B. Patente, gewerbliche Muster, Warenzeichen und Erfindungen) als (vorübergehende) Übertragung von "Sachkapital" unter die Kapitalverkehrsfreiheit zu fassen. Man wird aber berücksichtigen müssen, dass jedenfalls die entgeltliche (vorübergehende) Übertragung von Sachkapital in diesem Fall die zwangsläufige Folge einer Dienstleistung i.S.d. Art. 45 AEUV darstellt und daher die Dienstleistungsfreiheit wohl vorrangig anzuwenden sein wird (s. zur Abgrenzung Rz. 115). Zu beachten ist ferner, dass sich beide an einem Kapitalverkehrsvorgang beteiligten Marktteilnehmer (Anbieter und Nachfrager von Kapital) auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen können: So ist etwa bei Anlagen in Gesellschaften sowohl die Person, die als Gesellschafter in eine Gesellschaft investiert (aktive Kapitalverkehrsfreiheit) als auch die Gesellschaft selbst geschützt, die Kapital von Investoren einsammelt (passive Kapitalverkehrsfreiheit).
Rz. 109
Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit. Von der Frage der Eröffnung des Schutzbereichs der Kapitalverkehrsfreiheit ist die – sich daran erst anschließende – Frage zu unterscheiden, ob die Kapitalverkehrsfreiheit von der Niederlassungsfreiheit verdrängt wird. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des EuGH zwischen EU-Fällen (vgl. Rz. 110) und Drittstaaten-Fällen (vgl. Rz. 111 f.) zu unterscheiden:
Rz. 110
EU-Fall. Bezieht eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft Dividenden von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft, so kann eine Regelung zur Besteuerung von Dividenden unter die Niederlassungsfreiheit sowie unter die Kapitalverkehrsfreiheit fallen. Ob eine nationale Norm unter...