Rz. 44
Rechtsfolge. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchs vor, kann sich der Steuerpflichtige nicht auf den im Unionsrecht vorgesehenen Vorteil berufen. Gleiches gilt für nationale Normen, die der Umsetzung einer vorteilsgewährenden Richtlinienbestimmung dienen (vgl. Rz. 24). Die Mitgliedstaaten bzw. die nationalen Behörden und Gerichte sind zugleich aus dem allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots i.V.m. der Loyalitätsverpflichtung aus Art. 4 Abs. 3 EUV dazu verpflichtet, dem Steuerpflichtigen den missbrauchten Vorteil zu versagen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH folgt aus dem unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass der Besteuerung der nicht missbräuchliche Fall zugrunde zu legen ist, d.h. der zu besteuernde Sachverhalt in der Weise neu zu definieren ist, dass für die – auf das nationale Recht gestützte – Besteuerung auf die Lage abgestellt wird, die ohne das missbräuchliche Verhalten bestanden hätte. Bei missbräuchlicher Zwischenschaltung einer Gesellschaft (A) in den Bezug von Dividenden einer anderen Gesellschaft (B) ist daher der Fall zugrunde zu legen, der ohne diese Zwischenschaltung bestünde, d.h. in der die die Gesellschaft (A) zwischenschaltende Person die Anteile an der Gesellschaft (B) unmittelbar (und nicht mittelbar über die Gesellschaft [A]) hält und die Dividenden aus der Beteiligung unmittelbar bezieht (vgl. auch § 50d Abs. 3 EStG Rz. 169). Das ergibt sich auch aus einer inneren Verbindung von Tatbestand und Rechtsfolge des Missbrauchsverbots: Stellt der Tatbestand auf das missbräuchliche Erzielen eines Steuervorteils ab (vgl. Rz. 31.1), muss dieser (aber auch nur dieser) Steuervorteil rechtsfolgenseitig versagt werden. Der geltend gemachte Vorteil ist also nur insoweit zu versagen, als er auch wirklich missbräuchlich erlangt wurde; im Übrigen ist die vorteilhafte Rechtsfolge zu gewähren, weil sie insoweit gerade nicht missbräuchlich erlangt wurde. Das fordert der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der insoweit auch auf den allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots in der Weise einwirkt, dass sein Ziel der Missbrauchsvermeidung nur verhältnismäßig verfolgt werden darf: Die Abschöpfung des durch den Missbrauch erlangten (relativen) Steuervorteils in Form einer steuerlichen Statusverbesserung (vgl. § 50d Abs. 3 EStG Rz. 14, 169) ist zur Erreichung des Ziels der Bekämpfung missbräuchlichen Verhaltens ausreichend. Eine darüber hinausgehende Sanktionierung des Steuerpflichtigen ist zum Schutze des Steueraufkommens vor missbräuchlichen Praktiken hingegen nicht erforderlich und daher unverhältnismäßig. Die Feststellung eines Missbrauchs darf daher nicht als Grundlage für eine Sanktion dienen, die nach der Rechtsprechung des EuGH ohnehin einer klaren und eindeutigen Rechtsgrundlage bedürfte. Allein im Strafrecht bei der Feststellung eines Betrugs, der von der Feststellung "nur" eines Missbrauchs zu unterscheiden ist, mag eine über die Abschöpfung des erlangten Vorteils hinausreichende Sanktion angemessen und zweckmäßig sein. Das Missbrauchsverbot ist aber kein strafrechtliches Prinzip und dient nicht der Disziplinierung oder Sanktionierung der Steuerpflichtigen, sondern soll nur das materielle (Steuer-)Recht vor missbräuchlicher Inanspruchnahme schützen. Dazu reicht die Abschöpfung des missbrauchten Vorteils. In diesem Sinne ist die Rechtsfolgenanordnung des § 50d Abs. 3 EStG unionsrechtskonform auszulegen (vgl. § 50d Abs. 3 EStG Rz. 494).