Rz. 96
Nach alledem konnte es nicht verwundern, dass der II. Senat in seinem Beschluss vom 22.5.2002 – II R 61/99 die Regelung des § 12 Abs. 5 ErbStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1997 i.V.m. den dort in Bezug genommenen Vorschriften des BewG a.F. für gleichheitswidrig hielt. Er begründete dieses Ergebnis im Wesentlichen mit folgenden Erwägungen:
Rz. 97
Der Gleichheitssatz verlange für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleichmäßig belastet würden. Die Erbschaftsteuer sei eine Erbanfallsteuer. Besteuert werde die durch die Bereicherung eingetretene finanzielle Leistungsfähigkeit des Erwerbers. Diese Belastungsentscheidung müsse der Gesetzgeber folgerichtig umsetzen. Mit der durch § 12 Abs. 5 ErbStG a.F. angeordneten Übernahme der Steuerbilanzwerte bei der Bewertung des Betriebsvermögens habe der Gesetzgeber seine Entscheidung, den Erwerb nach der Leistungsfähigkeit des Erwerbers zu besteuern, nicht folgerichtig umgesetzt. Die Steuerbilanzwerte seien zur Erfassung des Werts der durch Erbanfall oder Schenkung übergehenden wirtschaftlichen Einheiten und Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens ungeeignet. Denn ertragsteuerliche Rechengrößen, die lediglich dazu dienten, die Ergebnisse verschiedener Rechnungsperioden voneinander abzugrenzen, seien keine geeignete Grundlage für die Ermittlung stichtagsbezogener Substanzwerte. Sie spiegelten regelmäßig nicht den wahren Wert eines Wirtschaftsguts wider, sondern stellten das Ergebnis – anderen Erfordernissen und Zielen dienender – handels- und steuerrechtlicher Abschreibungsregeln dar. Einkommensteuerrechtliche Bilanzierungs- und Abschreibungsregeln verwende der Gesetzgeber häufig als Instrument der Wirtschaftslenkung und Subvention. Gerade (Sonder-)Abschreibungen, die eine AfA über den tatsächlichen Werteverzehr hinaus zuließen, führten zu Bilanzansätzen, die keinen Bezug mehr zu einer realitätsgerechten Wertbildung hätten. Steuerbilanzwerte könnten daher nur zufällig einen realistischen Wert für das Betriebsvermögen treffen und bildeten den durch Erbanfall oder Schenkung unter Lebenden anfallenden Vermögenszuwachs nur unzureichend ab.
Rz. 98
Die Übernahme der Steuerbilanzwerte führe – anders als z.B. ein Bewertungsabschlag – zu keiner zielgerichteten und gleichmäßig wirkenden Steuerentlastung für Betriebsvermögen, sondern zeitige einen von Zufallsmomenten beeinflussten und damit willkürlich eintretenden Begünstigungseffekt. Die Höhe der Entlastungswirkung hänge im Einzelfall ausschließlich davon ab, in welchem Umfang im Unternehmen vor Eintritt des Erbfalls bzw. vor einer Schenkung stille Reserven hätten angesammelt werden können. Mithin fehle dem gesetzlich angeordneten Gebot des Ansatzes der Steuerbilanzwerte jeder sachliche Bezug zum Belastungsgrund der Erbschaft- und Schenkungsteuer, nämlich zur Höhe der durch Erbanfall und Schenkung eingetretenen Bereicherung und zur darin liegenden Leistungsfähigkeit des Erwerbers. Die Übernahme der Steuerbilanzwerte widerspreche dem Leistungsfähigkeitsprinzip, weil hiervon vor allem ertragsstarke, in ihrem Bestand nicht gefährdete Unternehmen profitierten, die von Bilanzierungswahlrechten und Sonderabschreibungen umfassend Gebrauch machen könnten, während dies den ertragsschwachen Unternehmen wegen des Bilanzbildes häufig nicht möglich sei. Der Abzug der Betriebsschulden zum Nennwert führe überdies zu einer überproportionalen Kompensation der regelmäßig unter dem Verkehrswert anzusetzenden Aktivposten.
Rz. 99
Die Übernahme der Steuerbilanzwerte führe keineswegs nur zu einer vereinfachten Bewertung, sondern stelle den Verzicht auf einen sach- und systemadäquaten Bewertungsmaßstab dar.
Rz. 100
Das BVerfG schloss sich der Auffassung des BFH an. Es entschied, die durch § 19 Abs. 1 ErbStG a.F. angeordnete Erhebung der Erbschaftsteuer mit einheitlichen Steuersätzen auf den Wert des Erwerbs sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, weil sie an Steuerwerte anknüpfe, deren Ermittlung bei wesentlichen Gruppen von Vermögensgegenständen, u.a. des Betriebsvermögens, den Anforderungen des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht genüge.
Rz. 101
So fehle es beim Betriebsvermögen an einer folgerichtigen Umsetzung der gesetzgeberischen Belastungsentscheidung auf der Bewertungsebene. Die weitgehende Übernahme der Steuerbilanzwerte verhindere strukturell eine Annäherung an die gemeinen Werte. Dies führe zu Besteuerungsergebnissen, die mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar seien.
Rz. 102
Die nach § 109 Abs. 1 BewG bis 2008 (a.F.) maßgeblichen Steuerbilanzwerte entsprächen nur in Ausnahmefällen den Teilwerten. So könnten durch bilanzpolitische Maßnahmen wie z.B. die Wahl von degressiver oder linearer AfA, Sofortabschreibungen oder erhöhten Absetzungen und Sonderabschreib...