Zusammenfassung
Die Vorläufigkeit bietet zwar wie der Vorbehalt der Nachprüfung die Möglichkeit, die Steuerfestsetzung über die Einspruchsfrist hinaus nicht bestandskräftig werden zu lassen. Allerdings gilt dies nicht hinsichtlich der gesamten Steuerfestsetzung, sondern nur hinsichtlich eines vom Finanzamt genau zu bestimmenden Teils, über den das Finanzamt im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung wegen ungewisser Fragen noch nicht entscheiden kann.
Dabei sind 2 Fallgruppen zu unterscheiden. Zum einen geht es um die Fälle, bei denen der der Steuerfestsetzung zugrunde liegende Sachverhalt noch unklar ist. Zum anderen geht es um Fälle der Rechtsanwendung, die eine i. d. R. verfassungsrechtliche, beim BFH oder beim BVerfG anhängige Streitfrage zum Gegenstand haben und bei denen die Vorläufigkeit dazu beitragen soll, Einsprüche zu verhindern. In beiden Fallgruppen sind die gesetzlichen Voraussetzungen sehr eng gefasst, sodass es in der Praxis regelmäßig zu Auslegungsstreitigkeiten kommt. Dies betrifft insbesondere die Vorläufigkeit wegen ungewisser Rechtsanwendung.
Im Rahmen der Vorläufigkeit bleibt die Steuerfestsetzung solange offen, als die Ungewissheit noch anhält. Erst nach deren Beseitigung hat das Finanzamt – je nach Ergebnis – den Ausgangsbescheid zu korrigieren oder für endgültig zu erklären. Verjährungsrechtlich kann es dabei u. U. auf eine besondere Ablaufhemmung zurückgreifen, sodass ggf. erforderliche Korrekturen auch noch nach einem sehr langen Zeitraum möglich sind.
Von der vorläufigen Steuerfestsetzung ist die Aussetzung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 4 AO zu unterscheiden. Dabei handelt es sich um einen (vorläufigen) Freistellungsbescheid i. S. d. § 155 Abs. 1 Satz 3 AO, bei dem es wegen der Ungewissheit ganz oder teilweise nicht zu einer Festsetzung der Steuer kommt (BFH, Urteil v. 23.1.2013, X R 32/08, BStBl 2013 II S. 423). § 165 Abs. 1 Satz 4 AO hat in der Praxis kaum Bedeutung. Eine wichtige Rolle spielte die Regelung zuletzt in Zusammenhang mit der durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 8.7.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) bedingten Neuregelung der Zinshöhe hinsichtlich der Vollverzinsung nach §§ 233a, 238 AO. S. im Einzelnen Gruppe 12/C "Zinsen auf Steuern".
Rechtsgrundlage für die vorläufige Steuerfestsetzung ist § 165 AO. Heranzuziehen ist daneben der AEAO, der in erster Linie Auslegungshilfe für die Vorläufigkeit wegen ungewisser Rechtsanwendung leistet. Von großer Bedeutung sind die dazu regelmäßig ergehenden BMF-Schreiben, die den sog. "Vorläufigkeitskatalog" an die aktuelle Entwicklung anpassen und das gesetzliche Ermessen in der Anwendungspraxis der Finanzämter konkretisieren (zuletzt veröffentlicht: BMF, Schreiben v. 28.3.2022, IV A 3 – S 0338/19/10006:001, BStBl 2022 I S. 203).
1 Voraussetzungen
1.1 Ungewisse Tatsachen
Ein Bescheid kann gem. § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig ergehen, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind. Die Ungewissheit bezieht sich aber nur auf die Tatsachengrundlage eines Steuertatbestands; eine Unsicherheit in der steuerrechtlichen Beurteilung eines feststehenden Sachverhalts rechtfertigt die Anordnung der Vorläufigkeit nicht. Dass § 165 Abs. 1 Satz 2 AO erweiternd auch rechtliche Gesichtspunkte in den Tatbestandsbereich des § 165 AO einbezieht, indem "diese Regelung" (als Satz 1) für die (in Satz 2 Nr. 1 bis 4) explizit angeführten Situationen "auch anzuwenden (ist)", berührt den durch Satz 1 der Regelung auf die tatsächlichen Sachumstände beschränkten Anwendungsbereich des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO nicht. Zu den Voraussetzungen gehören alle steuererheblichen Tatsachen und Zustände, aber auch rechtliche Vorfragen (zivil-, arbeits- und verwaltungsrechtliche) wie z. B. Eigentum, Arbeitsverhältnisse, Gesellschaftsverhältnisse, erbrechtliche Fragen, familienrechtliche Angelegenheiten, baurechtliche Fragen usw.
Auch künftige Tatsachen, die Rückschlüsse auf die Beurteilung im Veranlagungszeitraum ermöglichen, können die Vorläufigkeit rechtfertigen, z. B. in Fällen der Liebhaberei (Verluste über viele Jahre) oder der Ungewissheit der Vermietungsabsicht, in denen eine endgültige Entscheidung häufig erst nach Ablauf und Beurteilung eines längeren Zeitraums möglich ist.
Sind die Voraussetzungen für die Entstehung der Steuer bezüglich einer Hauptfrage ungewiss und spricht deswegen das Finanzamt die Vorläufigkeit aus, umfasst die Vorläufigkeit grundsätzlich auch die von der Hauptfrage abhängigen Folgefragen, auch wenn es sich insoweit nur um steuerliche Rechtsfragen handelt.
Ungewissheit bedeutet: Steuererhebliche Tatsachen usw. sind dem Finanzamt nicht bekannt oder unklar und sollen noch aufgeklärt werden; ist nicht zu erwarten, dass die Ungewissheit überhaupt beseitigt werden kann, kommt eine Vorläufigkeit nicht in Betracht.
Auch Änderungsbescheide können erstmals für vorläufig erklärt werden, z. B. aufgrund einer Außenprüfung, soweit der Rahmen der Änderungsvorschrift nicht überschritten wird.