LfSt Bayern v. 29.4.2009, S 0338.1 - 5/15 St 41
1. Allgemeines
Das Verfahren zur Anbringung von Vorläufigkeitsvermerken ist im BMF-Schreiben vom 1.4.2009 (AIS: AO/Vorläufigkeit) geregelt. Von der Möglichkeit eine Steuer nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufig festzusetzen, ist nur Gebrauch zu machen, soweit hierzu eine Anweisung durch BMF-Schreiben oder gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden vorliegt (vgl. AEAO zu § 165, Nr. 6). Zu welchen Punkten die Einkommensteuerfestsetzungen (ggf. auch andere ertragsteuerliche Verwaltungsakte) nach den Vorgaben des BMF vorläufig vorgenommen werden, ergibt sich aus der Anlage zum BMF-Schreiben vom 1.4.2009, die fortlaufend durch den BMF aktualisiert wird. Die aktuelle Liste kann jeweils im AIS eingesehen werden (AIS: AO/Vorläufigkeit).
2. Erledigte Vorläufigkeitsvermerke
Vgl. hierzu die Liste der erledigten Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (AIS: AO/Vorläufigkeit).
3. Rechtsschutzbedürfnis bei Steuerfestsetzungen mit Vorläufigkeitsvermerk
Gem. AEAO zu § 350, Nr. 6 fehlt Einsprüchen, mit denen ausschließlich die angebliche Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm gerügt wird, grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis, wenn das FA spätestens im Einspruchsverfahren den angefochtenen Verwaltungsakt hinsichtlich des strittigen Punktes für vorläufig erklärt hat (BFH-Beschlüsse vom 10.11.1993, X B 83/93, BStBl 1994 II S. 119 und vom 22.3.1996, III B 173/95, BStBl 1996 II S. 506).
Eine Beschwer ist jedoch dann gegeben, wenn
- der Einspruchsführer zu erkennen gibt, dass er vor Abschluss des Musterverfahrens seinen Fall an das BVerfG herantragen will,
- ausnahmsweise zu einem Punkt im „Vorläufigkeitskatalog” die Aussetzung der Vollziehung angewiesen worden ist (vgl. Tz. IV des BMF-Schreibens vom 1.4.2009)
- der Einspruchsführer davon ausgeht, dass eine Steuerfestsetzung durch den Vorläufigkeitsvermerk nicht „offen gehalten” wird.
Bezieht sich der Einspruchsführer ausschließlich auf Musterverfahren, zu deren Streitfragen bereits Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO vorliegen, liegt keine Beschwer vor, es sein denn es ergibt sich aus dem Einspruchsschreiben bzw. der nachfolgenden Kontaktaufnahme, dass der Einspruchsführer von einem nicht ausreichenden Umfang des Vorläufigkeitsvermerks ausgeht.
4. Folgen einer unzutreffenden Auskunft des Finanzamts zum Umfang des Vorläufigkeitsvermerks
Hat das FA gegenüber dem Steuerpflichtigen durch Äußerungen den unzutreffenden Eindruck erweckt, aufgrund eines Vorläufigkeitsvermerks könne der Einkommensteuerbescheid (zu seinen Gunsten) geändert werden und
- hat der Steuerpflichtige daher von der Einlegung eines Einspruchs abgesehen,
- einen bereits eingelegten Einspruch zurückgenommen oder
- hat das FA einen eingelegten Einspruch mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig verworfen,
ist wie folgt zu verfahren:
Soweit der Steuerpflichtige von der Einlegung eines Einspruchs abgehalten worden und die Jahresfrist im Sinne des § 110 Abs. 3 AO noch nicht abgelaufen ist, ist dem Steuerpflichtigen zur Eröffnung der Einspruchsmöglichkeit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) zu gewähren.
Bei einer durch eine „irreführende Äußerung” bewirkten Einspruchsrücknahme ist die Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme festzustellen und das Rechtsbehelfsverfahren fortzusetzen, falls dem nicht der Ablauf der Jahresfrist gem. § 362 Abs. 2 Satz 2 AO entgegensteht.
Soweit die vorgenannten verfahrensrechtlichen Möglichkeiten nicht bestehen, ist der vorläufige Einkommensteuerbescheid im Billigkeitswege (abweichende Steuerfestsetzung gem. § 163 AO) an die geänderte Rechtsprechung anzupassen.
5. Umfang der Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO a.F.
Für die Auslegung von Vorläufigkeitsvermerken, die noch auf der Basis der alten Rechtslage den Steuerbescheiden beigefügt worden, also vor Anwendung des BMF-Schreibens vom 1.4.2009 gilt Folgendes:
Auf der Basis des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens vor dem EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht (BFH) ist.
Somit ergibt sich die Reichweite dieser Vorläufigkeitsvermerke bereits aus der gesetzlichen Vorgabe des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO: der Vorläufigkeitsvermerk kann nur Musterverfahren erfassen, bei denen es um die Frage der Konformität eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz oder den europäischen Verträgen geht, nicht aber um sog. einfachgesetzliche Fragen. Für die Entscheidung, ob es sich bei dem BFH-Verfahren um ein Verfahren mit ausschließlich einfachgesetzlicher Problematik handelt, ist auf die vom BFH formulierte Rechtsfrage abzustellen (vgl. Homepage des BFH bzw. gelbe Beilage zum BStBl II).
Der BFH hat in dem Urteil vom 31.5.2006 (X R 9/05, BStBl 2006 II S. 858) darüber hinaus die Auffassung vertreten, dass Verfassungsbeschwerden, in denen die Verletzung der Grundrechte durch die vorangegangene Entscheidung des BFH ge...