Das handelsrechtliche Niederstwertprinzip gilt als Ausfluss des Vorsichtsprinzips. Wegen der geringen Bedeutung des Vorsichtsprinzips im IFRS-System wäre danach mit einer Niederstwertvorschrift in IFRS nicht unbedingt zu rechnen.
Zu den Grundannahmen der IFRS-Rechnungslegung gehört jedoch die periodengerechte Gewinnermittlung. Sie eröffnet einen zweiten Interpretationszugang zur Stichtagsbewertung und erklärt, warum der Niederstwertgrundsatz auch nach IFRS eine wichtige Rolle spielt.
Beispiel
Die Firework GmbH hat in 01 in Fernost Wunderkerzenpackungen der Marke Antarktika
- zu 0,40 EUR je Packung erworben, die sie üblicherweise
- zu 0,70 EUR an den Großhandel und die Handelsketten veräußert.
Durch unsachgemäße Anwendung ist es an Weihnachten zu einigen bedauerlichen Bränden gekommen. Das Magazin TV-Explosiv sendet unmittelbar nach den Festtagen einen Beitrag "Feiertage – Feuertage", in dem Hersteller und Markennamen mehrfach genannt werden.
Die Firework GmbH verkauft daher unmittelbar nach dem Bilanzstichtag alle Bestände zu 0,20 EUR je Packung an einen niederländischen Grossisten.
In der Handelsbilanz werden die Bestände mit 0,20 EUR bewertet.
Aus Sicht des handelsrechtlichen Vorsichtsprinzips ist der Kaufmann gehalten, sein Vermögen nicht zu reich zu rechnen. In der Handelsbilanz hat der Ausweis daher zu 0,20 EUR zu erfolgen.
Aus Sicht der periodengerechten Gewinnermittlung ist der Wertverlust verursachungsgerecht zu erfassen. Würde die Stichtagsbewertung zu 0,40 EUR erfolgen, so würde je Packung ein Verlust von 0,20 EUR in der GuV 02 entstehen. Die Verlustursache liegt aber tatsächlich im Jahr 01. Periodengerecht ist es daher, die GuV des Jahres 01 durch eine Niederstwertabschreibung von 0,20 EUR je Packung zu belasten und auch in der IFRS-Bilanz nur noch 0,20 EUR anzusetzen.
Wie das Beispiel zeigt, ist das Niederstwertprinzip durch den Periodisierungsgedanken ebenso gut zu rechtfertigen wie durch den Vorsichtsgedanken. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass Vorräte auch nach IAS 2.9 mit dem niedrigeren Stichtagswert anzusetzen sind.
Der Unterschied zum HGB liegt im Detail. Zur Bestimmung des niedrigeren beizulegenden Werts kommen drei Methoden infrage:
- Beschaffungsmarktorientiert ist eine Niederstwertabschreibung dann geboten, wenn der Wiederbeschaffungspreis sinkt.
- Absatzmarktorientiert ergibt sich der Niederstwert als Nettoveräußerungswert, d. h. als Verkaufserlös abzüglich der bis zum Verkauf noch anfallenden Kosten der Herstellung, der Lagerung, des Vertriebs usw.
- Sowohl beschaffungsmarkt- als auch absatzmarktorientiert ist von den beiden zuvor genannten Werten der niedrigere zu nehmen (sog. doppelte Maßgeblichkeit).
Die theoretisch anspruchsvollste Lösung besteht nun darin, nicht voll auf das eine oder das andere Verfahren zu setzen, sondern nach Nähe zum jeweiligen Markt zu differenzieren. Rohstoffe wären dann beschaffungsmarktorientiert zu bewerten, Erzeugnisse absatzmarktorientiert und Waren ggf. im Rahmen der doppelten Maßgeblichkeit. Diesem theoretischen Grundgedanken folgen die handelsrechtlichen Kommentare, wobei sie die Theorie durch Ausnahmen noch weiter verfeinern: für Überbestände an Rohstoffen wird etwa die Ableitung aus dem Absatzmarkt gefordert, für Überbestände an Erzeugnissen die doppelte Maßgeblichkeit und für Erzeugnisse mit Fremdbezugsmöglichkeit wiederum die Ableitung aus dem Beschaffungsmarkt.
Der Abstand dieser Theorie von der Bilanzierungspraxis ist beträchtlich. Die Praxis scheint längst gewöhnt, von einem derart komplexen System nur die Hälfte, ein Viertel oder weniger zu verstehen und sich um das Ganze nicht zu kümmern.
Eine einfachere, praxisgerechtere Lösung bietet demgegenüber IAS 2:
Der Niederstwert wird nach IFRS absatzmarktorientiert als Nettoveräußerungswert (net realisable value) bestimmt. Für Waren und Erzeugnisse ist dieser Ansatz plausibel. Bei Rohstoffen, die in aller Regel gerade nicht für den Absatzmarkt bestimmt sind, scheint die absatzmarktorientierte Bewertung zunächst bedenklich und unpraktikabel. Die IFRS-Lösung liegt nun darin, nach IAS 2.32 bei Rohstoffen auf eine Niederstwertabschreibung so lange zu verzichten, wie die Fertigerzeugnisse, in die sie eingehen, voraussichtlich zu den Herstellungskosten oder darüber verkauft werden können. Wenn ein Preisrückgang der Rohstoffe jedoch darauf hindeutet, dass die Herstellungskosten über dem Nettoveräußerungswert liegen und eine Abwertung der Rohstoffe geboten ist, kann diese hilfsweise auf der Basis der Wiederbeschaffungskosten erfolgen.
Abb. 2: Niederstwertprinzip nach HGB (Theorie) und IFRS
Beispiel
Die Firework GmbH beschafft in Fernost auf Dollarbasis Bariumnitrat und diverse andere Rohstoffe sowie als Handelsware Kleinfeuerwerk. Die Rohstoffe werden im Inland zu Großfeuerwerk verarbeitet. Wegen der Explosionsgefahr hat die Großfeuerwerksproduktion einen geringen Mechanisierungsgrad. Der Lohnkostenanteil fällt entsprechend hoch, der Rohstoffanteil entsprechend niedrig aus.
- Infolge einer Dollarabwertung sinken die Bezugspreis...