Sachverhalt
Bei dem italienischen Vorabentscheidungsersuchen ging es im Wesentlichen um die Frage, ob ein nationales Gericht gemeinschaftsrechtlich dazu verpflichtet ist, eine nationale Rechtskraftregelung, die dem Urteil eines anderen Gerichts über den gleichen Gegenstand Bindungswirkung verleiht, unangewendet zu lassen, wenn das nationale Gericht dadurch in die Lage versetzt wird, in einem Rechtsstreit über die Erhebung von Mehrwertsteuer dahin gehend zu urteilen, dass der einzige Zweck des in Frage stehenden Vorgangs die Erzielung eines steuerlichen Vorteils ist und der Vorgang daher eine missbräuchliche Praxis darstellt.
Art. 2909 des italienischen Codice civile, in dem der Grundsatz der Rechtskraft verankert ist, lautet: "In rechtskräftigen Urteilen enthaltene Feststellungen sind für die Parteien, ihre Erben oder Rechtsnachfolger in jeder Hinsicht bindend." Im Vorlagebeschluss wurde dazu angemerkt, dass das Kassationsgericht für den Bereich des Abgabenrechts lange am so genannten Grundsatz der "Frammentazione dei Giudicati" (Fragmentierung der Verfahren) festgehalten habe, wonach jedes Steuerjahr weitgehend losgelöst von den anderen Steuerjahren zu betrachten sei und zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Fiskus für jedes Steuerjahr ein Rechtsverhältnis entstehe, das von dem jeweiligen Rechtsverhältnis für die vorherigen und die folgenden Steuerjahre getrennt sei. Das führe dazu, dass Streitigkeiten, die mehrere Steuerjahre beträfen, statt nach Verbindung der betroffenen Verfahren in einem einzigen Urteil getrennt in mehreren Urteilen entschieden würden, selbst wenn sie dieselbe Abgabe beträfen und es um einander völlig oder teilweise entsprechende Fragen gehe. Keine der Entscheidungen könne daher gegenüber Verfahren, die andere Steuerjahre beträfen, Bindungswirkung entfalten.
Nach dem Vorlagebeschluss ist der Grundsatz der "Frammentazione dei Giudicati" aufgrund der jüngeren Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs jedoch überholt. Daher sei nunmehr in Abgabenverfahren die Berufung auf ein Urteil auch dann möglich, wenn das Urteil zu einem anderen als dem verfahrensgegenständlichen Abgabenzeitraum ergangen ist, sofern es einen grundlegenden Punkt betrifft, der beiden Rechtssachen gemeinsam ist. Grund dafür ist nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dass das Prinzip, Abgabenzeiträume getrennt zu betrachten, nicht ausschließt, dass eine Entscheidung für einen Abgabenzeitraum auch für andere Abgabenzeiträume bindend ist, wenn sie sich auf Elemente auswirkt, die für mehrere Abgabenzeiträume von Bedeutung sind.
Ausgangspunkt des Verfahrens waren vier von der italienischen Finanzverwaltung an die Klägerin gerichtete Mehrwertsteuer-Berichtigungsbescheide für die Veranlagungsjahre 1988 bis 1991. Mit einem von der Klägerin mit einem Dritten geschlossener Nutzungsvertrag sei in Wirklichkeit eine Gesetzesumgehung bezweckt worden, um einen Steuervorteil zu erzielen. Die Klägerin stützte sich im Verfahren auf zwei rechtskräftige Urteile eines Instanzgerichts, die Mehrwertsteuer-Berichtigungsbescheide betrafen, die aufgrund derselben Steuerprüfung bei der Klägerin ergangen waren, aber andere Veranlagungsjahre betrafen. Auch wenn diese Urteile andere Veranlagungszeiträume betroffen hätten, seien - so die Klägerin - die in ihnen enthaltenen Feststellungen und die getroffene Entscheidung nach Art. 2909 des Codice civile, der den Grundsatz der Rechtskraft enthalte, für das Ausgangsverfahren bindend.
Entscheidung
Der EuGH weist in seiner Entscheidung zunächst darauf hin, dass auf dem Gebiet der Rechtskraft gemeinschaftsrechtliche Vorschriften fehlen. Somit ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Vor diesem Hintergrund steht nach der Entscheidung des EuGH das Gemeinschaftsrecht bei einer Sachlage wie der des Ausgangsverfahrens der Anwendung einer Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile in einem die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreit, der ein Veranlagungsjahr betrifft, für das noch keine endgültige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, entgegen, soweit diese Vorschrift das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht an der Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu missbräuchlichen Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer hindert.
Hinweis
Das Urteil steht dem deutschen Recht nicht entgegen. Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile der Finanzgerichte und des Bundesfinanzhofs nur die am Rechtsstreit Beteiligten und nur, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist....