Leitsatz
Art. 185 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass er Vorschriften des nationalen Steuerrechts wie den Art. 79 und 80 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) nicht entgegensteht, nach denen im Fall der Feststellung des Fehlens mehrwertsteuerpflichtiger Gegenstände der zum Zeitpunkt des Erwerbs dieser Gegenstände vorgenommene Vorsteuerabzug zu berichtigen ist, wenn sie dem Steuerpflichtigen gestohlen wurden und der Täter nicht ermittelt worden ist.
Normenkette
Art. 184, 185 MwStSystRl, § 15a UStG
Sachverhalt
PIGI, ein Einzelunternehmen, wehrte sich gegen eine Vorsteuerberichtigung mit dem Hinweis, nicht mehr vorhandene Waren (u.a. Fehlmengen von Zigaretten) seien gestohlen worden und der Dieb habe nicht ermittelt werden können. Das bulgarische Gericht hatte Zweifel, ob das bulgarische Recht, dass "höhere Gewalt" als Hinderungsgrund für die Berichtigung erforderte, mit dem Unionsrecht vereinbar sei.
Entscheidung
Die wesentlichen Grundsätze ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen. Das Unionsrecht fordert die Berichtigung bei einer Änderung der für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Verhältnisse. Soweit das nationale Recht keine Berichtigung bei Diebstahl vorsieht wie das UStG, muss eine Berichtigung bei ordnungsgemäß nachgewiesenem oder belegtem Diebstahl unterbleiben.
Hinweis
1. Ob eine Vorsteuerberichtigung zulässig ist, wenn Gegenstände, die der Unternehmer mit Vorsteuerabzug erworben hat, gestohlen worden sind, ist Gegenstand der Entscheidung des EuGH. Eine Berichtigung ist nach Unionsrecht vorzunehmen, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben. Diebstahl führt zu einer Änderung der für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Verhältnisse, denn der Gegenstand kann nicht mehr für steuerpflichtige Ausgangsumsätze verwendet werden. Nach (der – fakultativen! – Regelung in) Art. 185 Abs. 2 MwStSystRl muss die Berichtigung unterbleiben u.a. in "ordnungsgemäß nachgewiesenen ... Fällen von ... Diebstahl". Die Mitgliedstaaten dürfen aber die Berichtigung des Vorsteuerabzugs in allen Fällen vorsehen, in denen zum Vorsteuerabzug berechtigende Gegenstände gestohlen wurden, auch wenn die Umstände des Diebstahls vollständig aufgeklärt wurden.
2. Sieht ein Mitgliedstaat – wie hier Bulgarien – im Fall eines Diebstahls unabhängig von dessen besonderen Umständen die Berichtigung des Vorsteuerabzugs vor, ist das mit der Richtlinie vereinbar.
3. Die Mitgliedstaaten können, wenn sie eine durch die Richtlinie gewährte Befugnis ausüben, die Rechtsetzungstechnik wählen, die ihnen am geeignetsten erscheint, und sind nicht gezwungen, die Formulierung der Richtlinie zu verwenden, sondern können auch einen gleichwertigen Ausdruck im nationalen Recht verwenden. Ggf. sind Bedeutungsnuancen im Wege der richtlinienkonformen Auslegung aufzulösen
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 4.10.2012 C-550/11PIGI – Paveta Dimova ET