Birthe Kramer, Dietrich Weilbach
2.11.1 Rechtsentwicklung
Rz. 93t
Die Vorschrift in § 1 Abs. 2c GrEStG wurde nach einer Beschlussempfehlung des Finanzausschusses (7. Ausschuss) vom 15.4.2021 zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (Drucks. 19/13437, 19/13546) zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetzes eingefügt (BT-Drucks. 19/28528, 27). Werden Anteile an einer Kapitalgesellschaft übertragen und geschieht dies im Börsenhandel, bleibt bei Ermittlung der 90 %-Grenze für § 1 Abs. 2a und 2b GrEStG ein solcher Übertragungsvorgang außer Betracht. In solchen Fällen einer Veränderung der Beteiligungsverhältnisse stehe, so die Gesetzesbegründung, die Kapitalbeschaffung im Vordergrund und nicht die missbräuchliche Ersparnis von Grunderwerbsteuer. Wer Anteile an einer börsennotierten Gesellschaft erwerbe, dem gehe es um die Teilhabe an der Ertragskraft dieser Gesellschaft und nicht um die Teilhabe an einem Grundstück.
Die Vorschrift erfasst nach dem klaren Wortlaut die Fälle, in denen zum Vermögen einer Kapitalgesellschaft (§ 1 Abs. 2b Satz 1 GrEStG) oder einer Personengesellschaft (§ 1 Abs. 2a Satz 1 GrEStG) ein inländisches Grundstück gehört. Im letztgenannten Fall geht es um Strukturen, in denen eine Kapitalgesellschaft an einer grundbesitzenden Personengesellschaft unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist. Die Kapitelbeschaffung über die Börse löst damit bei einer nachgeordneten Personengesellschaft bei einem mittelbaren Gesellschafterwechsel keine Grunderwerbsteuer aus.
Die Vorschrift setzt einen Übergang von zum Handel zugelassenen Anteilen voraus, der über die Börse (organisierter Markt nach § 2 Abs. 11 des Wertpapierhandelsgesetzes, WpHG), einen äquivalenten Dritthandelsplatz oder ein sonstiges der Verordnung (EU) Nummer 600/2014 (MiFIR) unterfallendes multilaterales Handelssystem (MTF) abgewickelt wird.
Die Börsenklausel ist mangels Übergangsregelung in allen noch offenen Fällen anzuwenden (vgl. gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 29.6.2021, BStBl I 2021, 1006) und betrifft auch mittelbare Erwerbe (Behrens in: Wäger, UStG, 2. Auflage 2022, § 4 UStG, Rn. 110-2).
Relevante sogenannte Zählerwerbe innerhalb des Betrachtungszeitraums können begünstigt sein. § 1 Abs. 2b GrEStG gilt für Anteilsübergänge ab dem 1. 7. 2021 (§ 23 Abs. 23 GrEStG), für Übertragungen vor dem 1. 7. 2021 besteht kein Bedürfnis für die Anwendung der Börsenklausel, eine Relevanz besteht daher nur im Anwendungsbereich von § 1 Abs. 2a GrEStG (auch in alter Fassung).
2.11.2 Sachliche Voraussetzungen und Rechtsfolge der Börsenklausel
Rz. 93u
Der Begriff des "organisierten Marktes" i. S. v. § 2 Abs. 11 WpHG entspricht dem Begriff des "geregelten Marktes" i. S. v. Art. 4 Abs. 1 Nr. 21 der Richtlinie 2014/65/EU. Die begriffliche Unterscheidung geht darauf zurück, dass ehemals der "geregelte Markt" als "regulierter Markt" bezeichnet wurde. Mit der Bezeichnung "organisierter Markt" wird einer Verwechslungsgefahr begegnet (Assmann in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, 6. Geregelter Markt [Art. 3 Abs. 1 Nr. 6 VO Nr. 596/2014] Rn. 14). unter "geregelter Markt" ist ein von einem Marktbetreiber i. S. v. Art. 3 Abs. 1 Nr. 5 VO Nr. 596/2014 betriebenes oder verwaltetes multilaterales System zu verstehen, das "die Interessen einer Vielzahl Dritter am Kauf und Verkauf von Finanzinstrumenten innerhalb des Systems und nach seinen nichtdiskretionären Regeln in einer Weise zusammenführt oder das Zusammenführen fördert, die zu einem Vertrag in Bezug auf Finanzinstrumente führt, die gemäß den Regeln und/oder den Systemen des Marktes zum Handel zugelassen wurden, sowie eine Zulassung erhalten hat und ordnungsgemäß und gemäß Titel III dieser Richtlinie funktioniert". Mit dieser formalen Bestimmung sind vereinfacht ausgedrückt allgemeine, der Börsenaufsicht und damit umfassend kontrollierte Handelsplätze gemeint. Eine analoge Anwendung der Vorschrift ist angesichts dieser klaren Definition des normspezifischen Marktbegriffs nicht möglich.
Inländische Börsen gehören, so folgt bereits aus der Gesetzesbegründung der Vorschrift, zu den geregelten Märkten, nicht jedoch der an einer Börse eingerichtete Freiverkehr (§ 48 BörsG, Assmann in: Assmann/Schneider/Mülbert, Wertpapierhandelsrecht, 8. Aufl. 2023, 6. Geregelter Markt [Art. 3 Abs. 1 Nr. 6 VO Nr. 596/2014] Rn. 14).
Handelsplätze in der EU und dem EWR, die sich als geregelter Markt qualifizieren, weil sie über vergleichbar hohe Standards verfügen, werden von der "European Securities and Markets Authority" (ESMA) dokumentiert. Dort wird ein Register über alle geregelten Märkte ("Regulated market") in der Europäischen Union und dem Europäischen Wirtschaftsraum geführt.
Vergleichbaren Standards unterliegen auch Drittlandhandelsplätze, die gem. Artikel 25 Abs. 4 Buchstabe a der Richtlinie 2014/65/EU von der Europäischen Kommission in Durchführungsbeschlüssen als gleichwertig erklärt worden sind (Durchführungsbeschlüsse 2017/2320 – USA, 2017/2319 – Hongkong, 2017/2318 – Australien).
Bei der Ermittlung des Vomhundertsatzes bleiben Übergänge von Anteilen an Kapitalgesellschaften außer Betracht. Dami...