Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
Leitsatz
Die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts wird im Fall des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht nur vermutet, sondern mit Ablauf der Frist fingiert. Die Existenz und die Wirksamkeit des Verwaltungsakts treten nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO erst mit Ablauf der 3-Tagesfrist ein.
Sachverhalt
Das Finanzamt hatte die Einkommensteuerbescheide 2014 und 2015 am 21.12.2021 erlassen und an eine Steuerberaterkanzlei als Bekanntgabeadressatin versandt. Dort gingen sie am 22.12.2021 ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger das Mandat bereits gekündigt.
Die vorherige Vollmachtserteilung hatte die Kanzlei in die elektronische Vollmachtsdatenbank der Steuerberaterkammer eingestellt. Sie löschte die Vollmacht dort am 22.12.2021. Die Steuerberaterkammer leitete den Widerruf an die Sächsische Finanzverwaltung weiter. Das Finanzamt geht von einem Zugang der Information über den Widerruf der Vollmacht am 23.12.2021 aus.
Zu den erhaltenen Bescheiden erteilte die Kanzlei dem Finanzamt die Auskunft, sie habe diese mit einfachem Brief an den Kläger weitergeleitet. Der Kläger trägt vor, er habe diese Einkommensteuerbescheide nie erhalten und beantragt die Feststellung, dass die Einkommensteuerbescheide nicht wirksam bekanntgegeben worden sind.
Das Finanzamt geht hingegen davon aus, die Bescheide seien bereits mit Zugang in der Kanzlei am 22.12.2021 wirksam geworden. Erst nach dem Zugang der Bescheide habe es vom Widerruf der Vollmacht erfahren. Auf die Wirksamkeit der Bescheide habe dies keinen Einfluss.
Entscheidung
Das FG hat dem Kläger Recht gegeben und entschieden, dass eine wirksame Bekanntgabe an die Kanzlei nicht erfolgt ist.
Nach § 124 Abs. 1 AO wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Er soll dem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden, wenn der Finanzbehörde eine Empfangsvollmacht vorliegt. Ein Widerruf der Vollmacht wird der Finanzbehörde gegenüber erst wirksam, wenn er ihr zugeht.
Ein schriftlicher Verwaltungsakt gilt bei Übermittlung im Inland am 3. Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO). Diese sog. Bekanntgabefiktion findet auch Anwendung, wenn es um die Frage des Wirksamwerdens von Verwaltungsakten i.S.v. § 124 AO geht. Die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts wird im Fall des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht nur vermutet, sondern mit Ablauf der Frist fingiert. Die Existenz und die Wirksamkeit des Verwaltungsakts treten nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO erst mit Ablauf der 3-Tagesfrist ein. Sollte bei Anwendung einer Vorschrift, welche die "Bekanntgabe" als Tatbestandsmerkmal enthält, § 122 AO nicht gelten, müssten hierfür besondere Gründe vorliegen. Hinsichtlich der Wirksamkeit von Steuerverwaltungsakten sind solche nicht ersichtlich. Das Bekanntgabedatum der Einkommensteuerbescheide vom 21.12.2021 fällt damit nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO auf den 24.12.2021. Jedoch war dem Finanzamt der Widerruf der Vollmacht nach eigener Angabe bereits einen Tag zuvor mitgeteilt worden. Am 24.12.2021 konnten folglich für den Kläger keine wirksamen Bescheidbekanntgaben mehr an die Kanzlei bewirkt werden.
Da sich auch eine Heilung des Bekanntgabemangels durch Weiterleitung der Bescheide an den Kläger nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen lässt, wurden die Einkommensteuerbescheide nicht wirksam bekannt gegeben.
Hinweis
Der BFH wird nunmehr in dem anhängigen Revisionsverfahren, Az beim BFH IX R 30/23, die Frage entscheiden müssen, ob die während der 3-Tage-Bekanntgabefiktion erfolgte elektronische Rücknahme einer Vollmacht via Vollmachtsdatenbank der Steuerberaterkammer die Wirksamkeit eines Steuerbescheids hindert, wenn der Steuerbescheid vor der Rücknahme der Vollmacht an den bevollmächtigten Steuerberater abgesandt und von diesem innerhalb der 3-Tage-Bekanntgabefiktion empfangen wurde.
Link zur Entscheidung
Sächsisches FG, Urteil v. 22.11.2022, 6 K 709/22