Leitsatz
1. Ein bestimmter Sachverhalt i.S.d. § 174 AO ist der einzelne Lebensvorgang im Sinne eines Sachverhaltskomplexes, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft.
2. Auch im Rahmen des § 174 Abs. 4 AO muss der dem geänderten sowie der dem zu ändernden Steuerbescheid zugrunde liegende Sachverhalt übereinstimmen.
3. Übereinstimmung setzt jedoch keine vollständige Identität voraus.
4. Die irrige steuerliche Beurteilung in dem geänderten Bescheid muss sich ausschließlich auf diesen bestimmten Sachverhalt bezogen haben und darf nicht auf einem erst um weitere Tatsachen ergänzten Sachverhalt beruhen.
5. In dem zu ändernden Bescheid dürfen hingegen weitere Sachverhaltselemente hinzutreten, um einen gesetzlichen Tatbestand zu erfüllen, der den zunächst irrig beurteilten Sachverhalt nunmehr mit den richtigen steuerlichen Folgen versieht.
6. Maßstab für die Frage, ob ein Sachverhalt in dem geänderten Bescheid irrig beurteilt wurde, ist der letzte dem Änderungsbescheid vorausgegangene Bescheid.
7. Unerheblich ist, ob die irrige Beurteilung sich auf Tatsachen oder Rechtsfragen bezog.
8. § 174 Abs. 4 AO ist nicht auf Fälle der Objekt-, Perioden-, Zuständigkeits- oder Subjektkollision beschränkt, sondern enthält eine spezialgesetzliche Ausformung von Treu und Glauben. Hat der Steuerpflichtige erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten, so hat er auch die damit denklogisch verbundenen Nachteile hinzunehmen.
9. Das für die Gerichte geltende "Verböserungsverbot" schließt es grundsätzlich nicht aus, einen Bescheid, der bereits Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung war, nach den Vorschriften der AO zu ändern.
Normenkette
§ 171 Abs. 3a, § 174 Abs. 4, § 177 Abs. 2 AO, § 44 Abs. 2, § 110, § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO
Sachverhalt
Der Kläger K war Inhaber eines Malerbetriebs und ermittelte seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich. Sein Schwiegervater V überließ ihm eine Scheune zur betrieblichen Nutzung. Es wurde vereinbart, dass K bei Beendigung der Nutzungsüberlassung einen Anspruch auf Ersatz des Wertes der von ihm vorgenommenen Baumaßnahmen haben sollte. 2000 nahm K eine umfangreiche Sanierung des Scheunendaches vor. 2001 übertrug V das Grundstück unentgeltlich auf seine Tochter T, die Klägerin. Der Vertrag enthielt u.a. die Zusicherung, dass keine Miet- und Pachtverhältnisse mit Dritten bestünden. T vermietete dem K die Scheune. Einen Ersatzanspruch für die getätigten Aufwendungen machte K gegenüber V nicht geltend.
Für 2000 berücksichtigte das FA im Einspruchsverfahren im Schätzungswege 50 % der Aufwendungen für die Dachsanierung als Betriebsausgaben. Für das Jahr 2001 erhöhte es allerdings den Gewinn um denselben Betrag, da K seinen Ersatzanspruch gegen V hätte bilanzieren müssen. In dem Klageverfahren wegen der ESt 2000 und 2001 kam das FG zur Überzeugung, im Jahr 2000 seien die Aufwendungen in der von K geltend gemachten Höhe zu 100 % als Betriebsausgaben abziehbar. Nachdem das FA Abhilfe zugesagt hatte, wurde der Rechtsstreit hinsichtlich des Jahres 2000 für erledigt erklärt. In Bezug auf das Jahr 2001 wies das FG die Klage ab, da der Ersatzanspruch aus der Dachsanierung zu aktivieren gewesen sei, und zwar in der Höhe, in der im Jahr 2000 Betriebsausgaben abgezogen worden seien. Eine Verböserung sei indes nicht möglich, die ggf. mögliche Berichtigung sei dem FA vorbehalten. Das FA erließ daraufhin unter Berufung auf § 174 AO den Änderungsbescheid 2001 und aktivierte einen Ersatzanspruch in Höhe der im Jahr 2000 abgezogenen Betriebsausgaben. Das FG hat der Klage stattgegeben, weil der gemäß § 174 Abs. 4 AO notwendige einheitliche Lebensvorgang nicht gegeben sei (FG Düsseldorf, Urteil vom 25.10.2012, 14 K 1400/11 E, Haufe-Index 6420121, EFG 2014, 709).
Entscheidung
Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Im Streitfall sei der vom FA irrig beurteilte Sachverhalt die Dachsanierung im Jahr 2000 gewesen, die in voller Höhe betrieblich veranlasst gewesen sei. In dem streitgegenständlichen Bescheid 2001 habe das FA daraus gemäß § 174 Abs. 4 AO die Konsequenzen ziehen und den Ersatzanspruch spiegelbildlich nicht mehr nur zu 50 %, sondern zu 100 % aktivieren dürfen.
Hinweis
§ 174 Abs. 4 AO, der die Änderung einer Steuerfestsetzung nach beantragter Aufhebung einer Festsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen erlaubt, enthält eine gegenüber § 174 Abs. 1 bis 3 AO eigenständige Korrekturnorm, und zwar mit erheblichen Konsequenzen, wie dieses Urteil zeigt.
1. Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden.
2. Die Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO knüpft damit an einen "bestimmten Sachverhalt" an, der zentrales Element aller Tatbeständ...