Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
* 1. Entführt ein pakistanischer Vater seine Kinder in sein Heimatland oder hält er sie dort gegen den Willen der sorgeberechtigten Mutter fest, haben die Kinder ihren bisherigen inländischen Wohnsitz in der Wohnung ihrer Mutter nur dann aufgegeben, wenn die Umstände darauf schließen lassen, dass die Kinder nicht zurückkehren werden.
2. Die Prognoseentscheidung des Finanzgerichts über die Rückkehr der Kinder ist vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar.
* Leitsatz nicht amtlich
Normenkette
§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG , § 63 Abs. 1 EStG , § 8 AO
Sachverhalt
Die Klägerin war die sorgeberechtigte Mutter dreier minderjähriger Kinder, die im Juli 1997 von ihrem Vater nach Pakistan entführt und dort festgehalten wurden. Die Kinder wurden im Oktober 1998 mit Hilfe des Auswärtigen Amts und der zuständigen Polizeibehörden wieder nach Deutschland zurückgebracht. Der Vater wurde wegen Freiheitsberaubung zu einer Haftstrafe verurteilt.
Der Beklagte vertrat die Ansicht, dass der Klägerin während der Dauer der Entführung kein Kindergeld gewährt werden könne; die Kinder hätten nicht mehr im Inland gewohnt.
Das FG war anderer Auffassung. Die Wohnung im Inland hätte den Kindern weiterhin zur Verfügung gestanden; bei einer erzwungenen Abwesenheit von wenig mehr als einem Jahr könne noch nicht von einer Aufgabe der Wohnung gesprochen werden.
Entscheidung
Der BFH bestätigte das Urteil. Der Kindeswohnsitz sei nach § 8 AO zu bestimmen. Danach lasse sich nur im Weg einer vorausschauenden Betrachtung beurteilen, ob mit einer Rückkehr der Kinder zu rechnen sei. Diese Prognose habe das FG als Tatsacheninstanz anhand der erkennbaren Umstände des Falls zu erstellen; der BFH könne sie nur in eingeschränktem Umfang überprüfen.
Danach sei das FG zu Recht davon ausgegangen, dass die Kinder wegen der Entführung keinen natürlichen Willen zur Aufgabe der Wohnung gehabt hätten, die Mutter sich ernsthaft um die Rückkehr der Kinder bemüht hätte und keine Gesichtspunkte dafür erkennbar gewesen seien, dass die Bemühungen keine Aussicht auf Erfolg haben würden.
Hinweis
Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, haben, werden nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG beim Kindergeld nicht berücksichtigt (Wohnsitzprinzip). Was unter Wohnsitz im Sinn dieser Bestimmung zu verstehen ist, beurteilt der BFH nach § 8 AO. Also danach, ob jemand eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Das erfordert eine Prognose, eine Schlussfolgerung aus den festgestellten Umständen auf das zukünftige Verhalten des Kindes bzw. des Erziehungsberechtigten.
Die Rechtsprechung zu § 8 AO hatte es hier hauptsächlich mit freiwilligen Auslandsaufenthalten des Steuerpflichtigen zu tun und angenommen, dass diese Prognose auf tatsächlichem Gebiet liege, die "Unsicherheitslage" aber regelmäßig nach einem Jahr beendet sein und dann von einer Aufgabe des Wohnsitzes ausgegangen werden müsse (grundlegend bereits RFH, Urteil vom 20.9.1934, III A 270/34, RStBI 1935, 86, 87; zum Schulbesuch von Kindern im Ausland vgl. BFH, Urteil vom 23.11.2000, VI R 107/99, BStBI II 2001, 294). Bei erzwungenen Auslandsaufenthalten – z.B. der Entführung von Touristen im Ausland oder längeren Krankenhausaufenthalten – wird man demgegenüber regelmäßig davon ausgehen müssen, dass der Wohnsitz bis zur Beendigung der Zwangssituation fortbesteht.
Bei Entführungen von Kindern aus dem Inland kann nichts anderes gelten. Zwar wird in vielen Fällen das Kind nicht selbst entscheiden können, wo es wohnen will. Das BSG hatte deshalb zum Bundeskindergeldgesetz entschieden, dass Kinder keinen Wohnsitz im Inland haben, wenn sie von ihrem algerischen Vater gegen den Willen der sorgeberechtigten Mutter zu seinen Eltern gebracht worden sind und dort leben (Urteil vom 14.4.1983, 10 RKgI 5/82, SozSich 1984, RsprNr 3794). Der Wille der sorgeberechtigten Mutter sei ohne Bedeutung, weil ein nicht realisierbarer Wille nicht zur Begründung oder Beibehaltung eines Wohnsitzes führen könne.
Davon, dass der Wille, an einem bestimmten Ort zu wohnen, realisierbar sein müsse, geht auch der BFH aus. Allerdings misst er dem Willen der sorgeberechtigten Mutter größere Bedeutung zu. Bei Kindesentführungen wird man einen fortbestehenden Wohnsitz des Kindes dann annehmen müssen, wenn
– die Mutter alles in ihrer Macht Stehende zur Rückführung der Kinder unternommen hat und
– eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die Kinder vom Aufenthaltsstaat ausgeliefert werden.
Bei dieser Prüfung wird man auf das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10. 1980 (BGBI 90 II, 206) zurückgreifen können, das vor allem auch die Rückgabe von widerrechtlich in einen Vertragsstaat (Zufluchtsstaat) verbrachten oder dort zurückgehaltenen Kindern regelt (vgl. d...