Jochen Kröber, Christian Jonas
4.1 Prozessmodell mit End-to-End-Prozessen als Ausgangsbasis
Grundvoraussetzung für eine systematische Reduzierung des Working Capital ist ein umfassendes Verständnis für die Potenziale, die durch eine Verringerung der Kapitalbindung in Beständen und Forderungen sowie eine Erhöhung der Verbindlichkeiten realisiert werden können. Um nachhaltige Veränderungen zu erreichen, genügt es demnach nicht, dass finanzielle Zielgrößen gesetzt werden, die dann von den Fachbereichen erreicht werden sollen. Gerade wegen des übergreifenden Charakters und der zahlreichen Zielkonflikte ist es unerlässlich, dass Abhängigkeiten und Wechselwirkungen in einem schlüssigen Gesamtkonzept verbunden werden. Um ein erfolgreiches Vorgehen sicherzustellen, empfiehlt sich ein Ansatz, der auf einem durchgängigen End-to-End-Prozessmodell aufsetzt und alle relevanten Prozesse umfasst. Dadurch kann sichergestellt werden, dass die richtigen Schwerpunkte gesetzt und die wirklich wirksamen Stellhebel identifiziert werden können.
Die Betrachtung des Prozessmodells sollte dabei mit den übergreifenden End-to-End-Prozessen beginnen und dann die zugehörigen Hauptprozesse umfassen. In Einzelfällen kann auch ein Aufbohren in die Teilprozesse erfolgen, allerdings sollte der Fokus zunächst auf einem übergreifenden Strukturierungsmodell liegen und nicht in einer Detailsicht der Prozesse. Diese vertiefende Betrachtung kann ggf. zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
Konkret umfassen die End-to-End-Prozesse i. d. R. 3 übergreifende Prozessmodule, die jedes für sich auf die finanziellen Größen des Working Capital einzahlen. Durch die übergreifenden Prozessmodule wird eine Verknüpfung der finanziellen Kennzahlen mit den Prozessen und ihren tatsächlichen Treibern erreicht. Der Aufbau stellt sich dabei wie folgt dar (s. auch Abb. 4):
- Für eine Optimierung der Verbindlichkeiten ist das Prozessmodul Purchase-to-Pay zu verwenden, indem die Beschaffung von Rohstoffen und Zukaufteilen von der Lieferantenauswahl und Bestellung bis zur Bezahlung betrachtet wird. Die zugehörige Kennzahl auf oberster Ebene ist DPO (Days Payables Outstanding).
- Die Optimierung der Bestände basiert auf dem Prozessmodul Forecast-to-Fulfill, wodurch die Absatz- und Bedarfsplanung bis zur Bestellung und Produktion betrachtet wird. Die zugehörige Kennzahl ist DIOH (Days Inventory on Hand).
- Und für eine Optimierung von Forderungen ist das Prozessmodul Order-to-Cash relevant, also vom Eingang des Kundenauftrags über die Lieferung bis zum Zahlungseingang durch den Kunden. Als Kennzahl ist DSO (Days Sales Outstanding) heranzuziehen.
Abb. 4: End-to-End-Prozesse und Stellhebel im Working Capital Management
Über die 3 Prozessmodule sind alle monetären und physischen Wertströme eines Produktionsunternehmens auf der obersten Ebene abgedeckt. Für ein Handelsunternehmen würde grundsätzlich derselbe Ansatz verfolgt werden, lediglich der Prozess Forecast-to-Fulfill würde sich in seinen Hauptprozessen unterscheiden. In einem nächsten Schritt sind nun die Hauptprozesse aufzubauen und zuzuordnen. Für Forecast-to-Fulfill bedeutet dies bspw., dass auf der nächsten Prozessebene u. a.
- Bestandsmanagement,
- Prognose & Bedarfsplanung,
- Lieferplanung,
- Bestandsallokation,
- Auftragsmanagement,
- Auftragsüberwachung und
- Lagerung
zu betrachten sind. Der Umfang und die Ausgestaltung der Hauptprozesse kann dabei je nach Unternehmensanforderungen und spezifischen Rahmenbedingungen variieren. Für eine erste Schwerpunktsetzung kann meist auch sehr gut mit branchenspezifischen Referenzprozessen begonnen werden, die dann in einzelnen Teilaspekten ggf. angepasst werden.
Der Aufbau und die Abbildung der Hauptprozesse ist insbesondere wichtig, da sich hieraus zum einen bereits Erkenntnisse für eine Priorisierung oder auch für konkrete Anknüpfungspunkte ableiten lassen. Zum anderen kann die Kapitalbindungsdauer über die Prozesse dargestellt werden. Anhand der sich ergebenden Kennzahlen (z. B. DSO, DPO, DIOH) oder der Durchlaufzeiten über die einzelnen Messpunkte (z. B. Auftragseingang, Einlastung, Wareneingang, Produktionsstart, Produktionsende, Versand etc.) entlang der End-to-End-Prozesse kann dann eine exakte Verfolgung der Höhe und Dauer der Kapitalbindung über die jeweiligen Prozesse bzw. die Wertschöpfungskette abgeleitet werden. So können zielgerichtet die richtigen Stellhebel ausgewählt werden.
4.2 Prozess: Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistung
Um Verbindlichkeiten zu optimieren, wird das Prozessmodul Purchase-to-Pay betrachtet. Die wesentlichen Hauptprozesse sind hierfür Budgetierung & Forecast, Vertragsmanagement, Bestellung, Anlieferung, Rechnungsmanagement, Reklamationsmanagement und Zahlung. Hierzu lassen sich nun verschiedene Messpunkte definieren, die den Prozess ab Erhalt der Ware bis zur Bezahlung abbilden. Im Idealfall lassen sich 3 grundsätzliche Prozesse mit inhaltlichem Blick in Richtung Verbindlichkeiten bzw. Lieferant betrachten: Days-to-Invoice, Days-to-Due-Date und Days-to-Payment.
Days-to-Invoice: 1. Zeitspanne von Shipment Received (Wareneingang) bis Invoice Received (Rechnungseingang)
Ein möglicher Stellhebel zur Optimierung i...