Leitsatz
1. Einkommensteuerrechtliche Antrags- oder Wahlrechte können auch nach Eintritt der Bestandskraft eines vorangehenden Bescheids jedenfalls dann erstmalig ausgeübt oder geändert werden, wenn das FA einen steuererhöhenden Änderungsbescheid erlassen hat, mit dem ein weiterer steuererheblicher Sachverhalt erfasst worden ist, aufgrund dessen überhaupt erst die wirtschaftliche Notwendigkeit entstanden ist, sich mit der erstmaligen bzw. geänderten Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts zu befassen (Abweichung vom BFH-Beschluss vom 10.5.2010, IX B 220/09, BFH/NV 2010, 1415 mit Zustimmung des IX. Senats). Die nachträgliche Antrags- oder Wahlrechtsausübung wird in zeitlicher Hinsicht durch die formelle Bestandskraft des Änderungsbescheids und in betragsmäßiger Hinsicht durch den Änderungsrahmen des § 351 Abs. 1 AO begrenzt.
2. Der Freibetrag für Betriebsveräußerungs- oder aufgabegewinne kann auch bei Veräußerung oder Aufgabe mehrerer Betriebe, Teilbetriebe oder Mitunternehmeranteile innerhalb desselben Veranlagungszeitraums nur für einen einzigen Veräußerungs- oder Aufgabegewinn in Anspruch genommen werden.
Normenkette
§ 16 Abs. 4 EStG, § 351 Abs. 1 AO
Sachverhalt
Die Klägerin erzielte sowohl als Einzelunternehmerin als auch durch eine Beteiligung an einer Publikums-KG Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Zu Beginn des Streitjahres schied sie aus der KG aus und gab zudem zum Jahresende den Betrieb ihres Einzelunternehmens auf. Für den Gewinn aus der Aufgabe des Einzelunternehmens i.H.v. 4.000 EUR beantragte sie den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG. Das FA veranlagte die Klägerin erklärungsgemäß. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
2010 erfuhr das FA, dass die Klägerin aufgrund ihres Ausscheidens aus der KG einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 23.000 EUR erzielt hatte, und änderte den ESt-Bescheid des Streitjahres dementsprechend gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Im hiergegen gerichteten Einspruchsverfahren beantragte die Klägerin erfolglos, den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG auf den – höheren – Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung anzuwenden. Das FG gab ihrer Klage – unter Hinweis auf eine mögliche Fehlerkompensation gemäß § 177 AO – statt (FG Münster, Urteil vom 24.4.2013, 7 K 2342/11 E, Haufe-Index 6205776, EFG 2014, 287). In seiner Revisionsbegründung verwies das FA auf eine gegenteilige Entscheidung des FG München, vom 29.10. 2009, 15 K 298/07 (Nichtzulassungsbeschwerde durch BFH-Beschluss vom 10.5.2010, IX B 220/09, BFH/NV 2010, 1415 zurückgewiesen).
Entscheidung
Der BFH stimmte dem FG zwar im Ergebnis dahin gehend zu, dass die Klägerin ihr Antragsrecht erneut ausüben konnte, aber aus anderen, nämlich den unter den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen. Da das FG bei seiner Entscheidung übersehen hatte, dass zusätzlich auch noch der Freibetrag für den Aufgabegewinn gewährt worden war, musste das Urteil entsprechend aufgehoben werden.
Hinweis
1. Wird gegen einen Steuerpflichtigen durch einen Änderungsbescheid eine im Vergleich zum vorangehenden Bescheid höhere Steuer festgesetzt, kann ein solcher Änderungsbescheid im Einspruchsverfahren gemäß § 351 Abs. 1 AO insoweit angegriffen werden, als die Änderung reicht. Im Einspruchsverfahren kann dann das durch § 16 Abs. 4 EStG eröffnete Antragsrecht gegen den Änderungsbescheid anderweitig ausgeübt werden.
2. Dem steht die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung nicht entgegen, wonach auch solche Antrags- oder Wahlrechte, für deren Ausübung im Gesetzeswortlaut keine ausdrückliche zeitliche Begrenzung vorgesehen ist, grundsätzlich nur bis zum Eintritt der Bestandskraft des entsprechenden Steuerbescheids erstmals oder in geänderter Weise ausgeübt werden können.
Der Zweck der Rechtsprechung liegt nämlich darin, zu verhindern, dass ein formell und materiell bestandskräftiger Steuerbescheid, für dessen Änderung keine Korrekturvorschrift zur Verfügung steht, allein wegen der erstmaligen oder anderweitigen Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts geändert werden muss. Der Steuerpflichtige soll die Finanzverwaltung nicht allein durch die nachträgliche ("verspätete") erstmalige oder geänderte Ausübung von Antrags- oder Wahlrechten zwingen können, die Veranlagung verfahrensrechtlich wieder zu "öffnen".
Die Situation ist indes erkennbar anders, wenn nicht die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids begehrt, sondern im Einspruchsverfahren ein steuererhöhender Änderungsbescheid angegriffen wird, der als solcher nicht bestandskräftig geworden ist. Die zeitliche Grenze für die Möglichkeit der erstmaligen oder geänderten Ausübung eines Antrags- oder Wahlrechts wird dann nach Auffassung des BFH nicht durch die formelle Bestandskraft des Erstbescheids, sondern erst durch die formelle Bestandskraft des steuererhöhenden Änderungsbescheids gezogen.
3. Eine andere wichtige Grenze ist aber zu beachten: Die steuerlichen Auswirkungen der Ausübung des Antrags- oder Wahlrechts dürfen nicht über den durch § 351 Abs. 1 AO gezogenen Rahmen hinausgehen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 27...