Leitsatz
1. Bei bilanzierenden Steuerpflichtigen ist Vertrauensschutz gegenüber unecht rückwirkenden Gesetzen nicht über mindestens zwei Veranlagungszeitraumwechsel hinweg zu gewähren. Der BVerfG-Beschluss Rückwirkung im Steuerrecht III vom 07.07.2010 – 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06 (BVerfGE 127, 31, BGBl I 2010, 925 –Entscheidungsformel–) ist nicht nur auf Arbeitnehmerabfindungen zugeschnitten.
2. Die BVerfG-Beschlüsse Rückwirkung im Steuerrecht I vom 07.07.2010 – 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05 (BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76 –Entscheidungsformel–) und Rückwirkung im Steuerrecht II vom 07.07.2010 – 2 BvR 748/05 (BVerfGE 127, 61, BStBl II 2011, 86 –Entscheidungsformel–) sind wegen des Dualismus der Einkunftsarten auf Vermögenszuwächse im Gewerbebetrieb nicht übertragbar.
Normenkette
§ 16, § 32a, § 34 Abs. 1, § 52 Abs. 47 Satz 1 EStG 1999/2000, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 12, Art. 14, Art. 20 Abs. 3 GG
Sachverhalt
Die Kläger sind Erben des 2011 verstorbenen E, der seit 1992 eine atypisch stille Unterbeteiligung am Kommanditanteil einer KG hielt. Eine ordentliche Kündigung des Unterbeteiligungsverhältnisses war erstmalig zum ...2000 unter Einhaltung einer Frist von zwei Jahren möglich. Im Mai 1998 kündigte E das Unterbeteiligungsverhältnis zum ...2000. Das Auseinandersetzungsguthaben wurde von 2001 bis 2012 in Raten ausgezahlt.
Zwischen der Kündigung 1998 und dem Eintritt der Kündigungsfolgen 2000 wurde in § 34 Abs. 1 EStG der halbe Steuersatz durch die Fünftel-Regelung ersetzt. Der Gesetzentwurf wurde am 9.11.1998 in den Bundestag eingebracht und das Gesetz vom 24.3.1999 am 31.3.1999 im BGBl veröffentlicht. Es trat am 1.1.1999 in Kraft. Durch das Steuersenkungsergänzungsgesetz vom 19.12.2000 wurde § 34 EStG mit Wirkung vom 1.1.2001 erneut geändert.
Den für 2000 festgestellten Veräußerungsgewinn unterwarf das FA im ESt-Bescheid gemäß § 34 Abs. 1 EStG 1999/2000 der Fünftel-Regelung und bemaß die ESt mit dem allgemeinen Steuersatz gemäß § 32a EStG, d.h. mit dem Höchststeuersatz von (im Jahr 2000) 51 %, statt – wie von E beantragt – dem halben durchschnittlichen Steuersatz gemäß § 34 Abs. 1 EStG 1998 (von 53 %, dem Höchststeuersatz im Jahr 1998). Einspruch und Klage blieben erfolglos (FG Münster, Urteil vom 18.12.2019, 1 K 2665/17 E, Haufe-Index 13615973, EFG 2020, 273).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision der Kläger als unbegründet zurück.
Hinweis
Zwischen den Beteiligten war unstreitig, dass der Wortlaut der §§ 34, 52 Abs. 47 Satz 1 EStG 1999/2000 die Festsetzung der ESt 2000 mittels der Fünftel-Regelung anstelle des letztmals für 1998 geltenden halben Steuersatzes gebot. Das umfangreiche BFH-Urteil prüft daher anhand der BVerfG-Rechtsprechung verschiedene Aspekte einer möglichen Verfassungswidrigkeit der Neuregelung und verneint diese. Der halbe Steuersatz konnte im Streitfall für den gewerblichen Veräußerungsgewinn i.S.d. § 16 EStG nicht beansprucht werden, weil der Veräußerungserlös im Jahr 2000 auf einer Kündigung der Beteiligung im Jahr 1998 beruhte.
1. Außerhalb des Strafrechts – hier gilt Art. 103 Abs. 2 GG – beruht das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze auf den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip, vor allem auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung (BVerfG, Beschluss vom 25.3.2021, 2 BvL 1/11, BFH/NV 2021, 1054, BVerfGE 157, 177, betr. Erbbauzinsen).
2. Eine echte Rückwirkung, bei der die Rechtsfolge einer Rechtsnorm mit belastender Wirkung für vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll, also die Rückbewirkung von Rechtsfolgen, ist grundsätzlich unzulässig. Im ESt-Recht betrifft dies die Änderung von Normen mit Wirkung für einen vergangenen VZ.
Eine unechte Rückwirkung bzw. eine tatbestandliche Rückanknüpfung belastender Rechtsfolgen kann im Bereich des ESt-Rechts vorliegen, wenn Normen für den laufenden oder für einen künftigen VZ geändert werden, denn die ESt entsteht erst mit dem Ablauf des VZ. Eine Änderung des EStG für den laufenden oder für einen künftigen VZ ist grundsätzlich zulässig, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt (BVerfG, Urteil vom 10.4.2018, 1 BvR 1236/11, Rz. 138, zur GewSt-Pflicht der Mitunternehmeranteilsveräußerung, Haufe-Index 11632832 BVerfGE 148, 217, BStBl II 2018, 303, und BVerfG, Beschluss vom 10.12.2012, 1 BvL 6/07, Rz. 45, zur Streubesitzbeteiligung, BFH/NV 2013, 173, BVerfGE 132, 302, BStBl II 2012, 932).
3. Im Streitfall erfolgte die Gesetzesänderung im Jahr 1999 und die ESt-Schuld entstand mit Ablauf des Jahres 2000. Es handelt sich also weder um eine echte Rückwirkung noch um eine Änderung für d...