Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
1. Für die Wege eines Arbeitnehmers zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten ist keine Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG anzusetzen.
2. Die Fahrtkosten sind unabhängig von der Entfernung (ab dem ersten Kilometer) in tatsächlicher Höhe als Werbungskosten zu berücksichtigen.
3. Die frühere Rechtsprechung zur Anwendung des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG bei Fahrten zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten im Einzugsbereich (sog. 30-km-Grenze) ist aufgrund geänderter Rechtsprechung des BFH überholt.
Normenkette
§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4, § 9 Abs. 1 S. 1 EStG 2004, § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 5 S. 3, § 9 Abs. 5 EStG, Abschn. 38 Abs. 5 LStR 1996, R 9.5 LStR 2008, H 9.4, 9.5 LStH 2008
Sachverhalt
Der nicht selbstständig als Bauarbeiter tätige Kläger war an 257 Werktagen auf wechselnden Tätigkeitsstätten eingesetzt. Diese lagen bis zu 45 km von seinem Wohnort entfernt. Das FA berücksichtigte die Aufwendungen für Fahrten des Klägers mit dem eigenen Pkw zu den Tätigkeitsstätten, die weniger als 30 km vom Wohnort entfernt lagen, nur mit der Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG 2004). Der Kläger begehrte stattdessen den Ansatz der tatsächlichen Kosten mit der Pauschale von 0,30 Euro je Kilometer.
Das FG (Sächsisches FG, Urteil vom 20.06.2007, 2 K 185/06, Haufe-Index 1930915, EFG 2008, 940) entsprach der Klage.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des FA zurück.
Hinweis
Das Besprechungsurteil hat insbesondere klarstellende Bedeutung. Denn der BFH verdeutlicht nochmals, dass seine ältere Rechtsprechung (z.B. BFH, Urteil vom 10.05.1985, VI R 157/81, BStBl II 1985, 595) zur Ausdehnung des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG auf Fahrtkosten bei wechselnden Tätigkeitsstätten im sog. Einzugsbereich, den die Finanzverwaltung daraufhin ab 1996 auf 30 km festgelegt hatte (Abschn. 38 Abs. 5 LStR 1996), gesetzessystematisch überholt sei.
Die Finanzverwaltung hat sich dieser Rechtsauffassung zwischenzeitlich auch angeschlossen. R 38 Abs. 3 LStR 1999 – 2007 (30-km-Grenze) ist in den LStR 2008 nicht mehr enthalten (R 9.5 LStR 2008; H 9.4, 9.5 Lohnsteuer-Handbuch 2008).
1. Die neuere Rechtsprechung des BFH unterscheidet systematisch und begrifflich strikt zwischen Fahrten zwischen Wohnung und (regelmäßiger) Arbeitsstätte (§ 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG) einerseits und Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten andererseits. Der VI. Senat konnte hierzu auf seine "Mai-Urteile" aus 2005 verweisen (BFH, Urteile vom 11.05.2005, VI R 15/04, BFH/NV 2005, 1691, BFH-PR 2005, 404; VI R 16/04, BFH/NV 2005, 1692, BFH-PR 2005, 406; VI R 25/04, BFH/NV 2005, 1694, BFH-PR 2005, 401; VI R 34/04, BFH/NV 2005, 1695, BFH-PR 2005, 405). Diese brachten grundlegende Änderungen zur steuerlichen Berücksichtigung der Reise- und Mobilitätskosten und klärten auch schon die Rechtslage für Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten (dazu BFH, Urteil vom 11.05.2005, VI R 70/03, BFH/NV 2005, 1688, BFH-PR 2005, 399).
2. Unter Hinweis auf seine Rechtsprechung zur regelmäßigen Arbeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG (z.B. BFH, Urteile vom 10.07.2008, VI R 21/07, BFH/NV 2008, 1923, BFH/PR 2008, 497; vom 04.04.2008, VI R 85/04, BFH/NV 2008, 1237, BFH/PR 2008, 377) betonte der BFH nochmals die Besonderheit des § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG (Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte): Diese Regelung habe zwar abzugsbeschränkende Wirkung, weil nur eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 0,30 Euro anzusetzen ist. Weil aber eine auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegte (regelmäßige) Arbeitsstätte vorliege, könne sich der Arbeitnehmer in unterschiedlicher Weise auf die immer gleichen Wege einstellen und so auf eine Minderung der Wegekosten hinwirken. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG könne daher noch als eine sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip angesehen werden (dazu BFH, Urteil vom 11.05.2005, VI R 25/04, BFH/NV 2005, 1694, BFH-PR 2005, 401).
3. Auf dieser Grundlage konnte § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG nicht für Fahrten des Arbeitnehmers zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten angewendet werden. Denn derartige Einsatzstellen sind nicht auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegt. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG wäre hier systemwidrig. Der Arbeitnehmer muss bei wechselnden Einsätzen beweglich bleiben und ist typischerweise auf ein Kraftfahrzeug angewiesen. Die Entfernungen der sich laufend ändernden Tätigkeitsstätten vom Wohnort schwankten oft stark. Dies gilt auch bei ständig wechselnden Tätigkeitsstätten innerhalb eines Einzugsbereichs von 30 km. Deshalb sind Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten unabhängig von der Entfernung (ab dem ersten Kilometer) mit den tatsächlichen Kosten als Werbungskosten zu berücksichtigen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 18.12.2008, VI R 39/07