Leitsatz
1. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens an das FA entrichtete Beträge, die nicht aus freigegebenen Vermögen stammen, können gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG nur auf Steuerschulden angerechnet werden, die zu den Masseverbindlichkeiten gehören. In Höhe eines nach Anrechnung der Zahlungen auf nachinsolvenzlich begründete Steuerschulden verbliebenen Überschusses entsteht ein Erstattungsanspruch zugunsten der Masse gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 EStG.
2. Einer Aufrechnung gegen diesen Erstattungsanspruch mit Insolvenzforderungen des FA steht das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO entgegen.
Normenkette
§ 251 Abs. 2 AO, § 35, § 38, § 55, § 96 Abs. 1 InsO, § 36 Abs. 2, § 36 Abs. 4 EStG
Sachverhalt
Nachdem das Insolvenzverfahren im Februar eines Jahres eröffnet worden war, übte der Insolvenzschuldner weiterhin seine selbstständige Tätigkeit als Arzt aus. Alle für das betreffende Jahr festgesetzten vier ESt-Vorauszahlungen wurden nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entrichtet. Nachdem das FA Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für diesen Veranlagungszeitraum festgesetzt hatte, kam es zum Streit über die Methode der Anrechnung der geleisteten Vorauszahlungen.
Auf die Klage des Insolvenzverwalters wurde der vom FA erteilte Abrechnungsbescheid vom FG geändert und ein Erstattungsanspruch des klagenden Insolvenzverwalters festgestellt (FG München, Urteil vom 7.5.2014, 9 K 2072/13, Haufe-Index 6996249, EFG 2014, 1488). Dieser begehrte jedoch eine höhere Erstattung mit der Begründung, das FG habe insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbote nicht beachtet.
Entscheidung
Aus den in den Praxis-Hinweisen dargestellten Gründen hat der BFH die Vorentscheidung sowie den angefochtenen Abrechnungsbescheid geändert und einen weiteren Erstattungsanspruch des Klägers festgestellt.
Hinweis
Im Streitfall waren nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners ESt-Vorauszahlungen entrichtet worden, die (so sah es der BFH) aus der Insolvenzmasse stammten und nicht aus freigegebenem Vermögen des Insolvenzschuldners, da für das Insolvenzverfahren des Streitfalls die nunmehr nach § 35 Abs. 2 InsO eröffnete Möglichkeit der Freigabe von Vermögen zum Zweck der Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit des Schuldners noch nicht gegeben und im Übrigen auch nichts für einen Willen zur Freigabe ersichtlich war.
Der BFH meinte, die in dem betreffenden Veranlagungszeitraum vor Insolvenzeröffnung begründeten ESt-Schulden seien Insolvenzschulden. Soweit der Schuldner nach Insolvenzeröffnung seine selbstständige Tätigkeit (offenbar mit Billigung des Insolvenzverwalters) fortsetzte, wäre es naheliegend gewesen, die darauf entfallenden ESt-Schulden als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren; der BFH hat dies allerdings offengelassen.
Jedenfalls (so die Lösung des BFH) führe die erforderliche Trennung der insolvenzlichen Vermögensbereiche dazu, dass nach Insolvenzeröffnung aus der Insolvenzmasse entrichtete ESt-Vorauszahlungen nur mit nach Insolvenzeröffnung begründeten ESt-Schulden verrechnet werden dürften. Ergebe sich insoweit eine Überzahlung, also ein Erstattungsanspruch der Insolvenzmasse, sei dieser im Zeitpunkt der Entrichtung der Vorauszahlungen insolvenzrechtlich begründet worden, weshalb das FA gegen diesen Anspruch nicht mit Insolvenzforderungen aufrechnen dürfe (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO).
Dieser Lösung liegt die sich auch aus anderen BFH-Entscheidungen ergebende Vorstellung zugrunde, man habe es im Insolvenzverfahren mit zwei oder manchmal sogar drei voneinander zu trennenden Vermögensbereichen (gleichsam zwei oder drei "Töpfen") zu tun, nämlich den Insolvenzverbindlichkeiten, den Masseverbindlichkeiten und dem ggf. vom Insolvenzverwalter gemäß § 35 Abs. 2 InsO freigegebenen Vermögen des Schuldners. Das erscheint hinsichtlich der Masseverbindlichkeiten zweifelhaft, denn diese sind natürlich auch aus dem "Topf" der Insolvenzmasse zu begleichen, nur eben nicht gemäß der Insolvenzquote, sondern "vorweg" (§ 53 InsO).
Die Theorie der "Töpfe" verführt auch leicht zu der Annahme, man habe es im Fall einer Insolvenzeröffnung im Verlauf eines ESt-Veranlagungszeitraums mit zwei Steuerschulden und dementsprechend zwei Steuerschuldnern zu tun. Das ist nicht der Fall. Es gibt vielmehr nur einen Steuerschuldner, nämlich den Insolvenzschuldner. Dessen (eine) Schuld wird am Ende des Veranlagungszeitraums ermittelt, indem die festgesetzte Steuer und die für den Veranlagungszeitraum entrichteten Vorauszahlungen miteinander verrechnet werden (§ 36 Abs. 2 EStG). Ergibt sich danach noch eine offene Steuerschuld (§ 36 Abs. 4 Satz 1 EStG), kommt die Insolvenzordnung ins Spiel, und es ist zu prüfen, ob und inwieweit das FA seine Steuerforderung zur Tabelle anmelden muss oder ggf. ihre Vorwegberichtigung als Masseverbindlichkeit gemäß § 53 InsO fordern oder ggf. ihre Begleichung unmittelbar vom Insolvenzschuldner (nämlich im Fall des § 35 Abs. 2 InsO) verlangen kann.
Der BFH wollte diesen Weg nicht gehen, sondern hat schon auf der Ebene der steuer...