Leitsatz

Nimmt das FA sowohl den Arbeitgeber nach § 42d EStG als auch den früheren Gesellschafter-Geschäftsführer u.a. wegen Lohnsteuer-Hinterziehung nach § 71 AO in Haftung, so hat es insoweit eine Ermessensentscheidung nach § 191 Abs. 1 i.V.m. § 5 AO zu treffen und die Ausübung dieses Ermessens regelmäßig zu begründen.

 

Normenkette

§ 42d EStG , § 191 Abs. 1 AO

 

Sachverhalt

Am Stammkapital der Klägerin, einer GmbH, waren neben zwei weiteren Gesellschaftern auch X, der zugleich Geschäftsführer war, zu je 1/3 beteiligt. Im Jahr 1988 veräußerten sämtliche Gesellschafter ihre Anteile an E, der auch die Geschäftsführung übernahm. Anlässlich einer Steuerfahndungsprüfung Anfang der 90er Jahre wurde festgestellt, dass in den Jahren 1984 bis 1987 in erheblichem Umfang LSt hinterzogen worden war. Das FA erließ deshalb gegenüber der Klägerin einen auf § 42d EStG gestützten LSt-Haftungsbescheid.

Das FG gab der Klage, mit der die Aufhebung des Haftungsbescheids begehrt wurde, statt. Während des Klageverfahrens wurde bekannt, dass das FA (zeitgleich) neben der Klägerin als Arbeitgeberin auch den ehemaligen Gesellschafter-Geschäftsführer X u.a. wegen LSt-Hinterziehung in Haftung genommen hatte. Zur Begründung führte das FG aus, das FA habe in Bezug auf die gesamtschuldnerische Haftung der Klägerin und des X keinerlei (Auswahl-)Ermessen ausgeübt.

 

Entscheidung

Der BFH bestätigte die Vorentscheidung. Er stimmte dem FG darin zu, dass das FA nicht nur im Rahmen des § 42d EStG sein Ermessen hinsichtlich einer Inanspruchnahme des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer auszuüben habe; im Streitfall sei zusätzlich wegen der Inanspruchnahme des ehemaligen Gesellschafter-Geschäftsführers ein (Auswahl-)Ermessen auch insoweit auszuüben und zu begründen.

 

Hinweis

1. Die Frage der richtigen Ermessensausübung bei Haftungsbescheiden bereitet den FÄ immer wieder große Probleme. Die Rechtsprechung hierzu füllt Bände.

Nach der zentralen Vorschrift des § 191 Abs. 1 AO "kann" derjenige durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, der kraft Gesetzes für eine (fremde) Steuer haftet. Die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners steht im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde. Diese hat darüber zu entscheiden, ob sie den in Frage kommenden Haftungsschuldner überhaupt in Anspruch nimmt (sog. Entschließungsermessen) und ggf. welchen bzw. welche von mehreren Verantwortlichen sie zur Haftung heranziehen will (sog. Auswahlermessen).

2. Der Streitfall wies die Besonderheit auf, dass das FA die Klägerin (eine GmbH) als Arbeitgeberin nach § 42d EStG als Haftende in Anspruch genommen hatte; zugleich hatte das FA gegen den ehemaligen Gesellschafter-Geschäftsführer (u.a. als LSt-Hinterzieher nach § 71 AO) einen Haftungsbescheid erlassen. Das FA meinte aber, wegen der besonderen Stellung des § 42d EStG bedürfe es keiner Erwägungen zum Auswahlermessen, wenn neben dem Arbeitgeber zusätzlich ein Dritter in Haftung genommen werde.

3. Ein Blick in die LSt-Richtlinien hätte das FA eines Besseren belehrt. Denn dort hat die Finanzverwaltung bestimmt, das FA habe bei der Wahl, an welchen Gesamtschuldner es sich halten will, eine Ermessensentscheidung auch dann zu treffen, wenn es nicht nur den Arbeitgeber nach § 42d EStG, sondern zusätzlich andere Personen (z.B. nach §§ 69 bis 77 AO) für LSt in Haftung nimmt (vgl. R 145 Abs. 2 LStR und H 145 "Haftung anderer Personen"). Diese Auffassung ist zutreffend.

Das in spezialgesetzlicher Weise geregelte (Auswahl-)Ermessen in § 42d EStG betrifft nur das ("Binnen"-)Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer (um diesen Punkt ging es im Streitfall überhaupt nicht). Nimmt das FA zusätzlich einen weiteren Haftenden in Anspruch, so kann sich das (Auswahl-)Ermessen insoweit nicht aus § 42d EStG ergeben; vielmehr ist auf die allgemeine Haftungsvorschrift des § 191 Abs. 1 AO abzustellen. Diese betrifft nämlich alle Haftungsvorschriften, wobei unter den einzelnen Haftungstatbeständen grundsätzlich keine Rangordnung besteht.

4. Der BFH hat ferner nochmals klargestellt, dass das FA spätestens in der Einspruchsentscheidung eine Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners anstellen muss. Insoweit ist nunmehr aber zu beachten, dass das FA ab 2001 (vgl. § 102 Satz 2 FGO n.F.) seine Ermessenserwägungen bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz (d.h. vor dem FG) ergänzen kann.

5. Da das FA im Streitfall überhaupt kein (Auswahl-)Ermessen zwischen den in Rede stehenden Personen getroffen hatte, brauchte der BFH (bzw. das FG) nicht zu entscheiden, welche Anforderungen an die Ermessensbegründung im Einzelnen zu stellen gewesen wären. Insoweit hatte das FG – m.E. zutreffend – angeführt, die unterschiedlichen Haftungstatbestände, z.B. verschuldensunabhängige Haftung als Arbeitgeber und Verschuldenshaftung als Geschäftsführer oder Hinterzieher, könnten bei der Ausübung des Auswahlermessens in die entsprechenden Ermessenserwägungen miteinbezogen werden.

6. Zur Frage der Festsetzungsverjährung hatte das FG bereits auf das BFH-Urteil vom 6.5...

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