Prof. Dr. Heinz-Jürgen Pezzer
Leitsatz
1. Selbstständige Ärzte üben ihren Beruf grundsätzlich auch dann leitend und eigenverantwortlich aus, wenn sie ärztliche Leistungen von angestellten Ärzten erbringen lassen.
2. Voraussetzung dafür ist, dass sie aufgrund ihrer Fachkenntnisse durch regelmäßige und eingehende Kontrolle maßgeblich auf die Tätigkeit ihres angestellten Fachpersonals patientenbezogen Einfluss nehmen, sodass die Leistung den "Stempel der Persönlichkeit" des Steuerpflichtigen trägt (Anschluss an BFH, Urteil vom 22.1.2004, IV R 51/01, BFHE 205, 151, BStBl II 2004, 509).
3. Führt ein selbstständiger Arzt die jeweils anstehenden Voruntersuchungen bei den Patienten durch, legt er für den Einzelfall die Behandlungsmethode fest und behält er sich die Behandlung "problematischer Fälle" vor, ist die Erbringung der ärztlichen Leistung durch angestellte Ärzte regelmäßig als Ausübung leitender eigenverantwortlicher freiberuflicher Tätigkeit im Rahmen des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG anzusehen.
Normenkette
§ 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3, § 15 Abs. 2 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin, eine Gemeinschaftspraxis (GbR) für Anästhesie, übte ihre Berufstätigkeit ohne Praxisräume als mobilen Anästhesiebetrieb in der Praxis von Ärzten aus, die Operationen unter Narkose durchführen wollen. Die Gesellschafter der Klägerin legten wöchentlich im Voraus fest, welcher Arzt bei welchem Operateur nach den von ihnen entwickelten standardisierten Behandlungsmethoden tätig werden sollte. Jeweils einer der Gesellschafter führte eine Voruntersuchung durch und schlug eine Behandlungsmethode vor. Die eigentliche Anästhesie führte sodann ein anderer Arzt aus.
In den Streitjahren beschäftigte die Klägerin eine angestellte Ärztin, die solche Anästhesien nach den Voruntersuchungen der Gesellschafter der Klägerin in einfach gelagerten Fällen vornahm. Problematische Fälle blieben den Gesellschaftern der Klägerin vorbehalten.
Das FA vertrat die Auffassung, die Klägerin übe ihre ärztliche Tätigkeit wegen Beschäftigung der angestellten Ärztin nicht mehr leitend und eigenverantwortlich durch ihre Gesellschafter aus und sei deshalb gewerblich tätig. Die Gesellschafter der Klägerin seien zwar leitend tätig. Die angestellte Ärztin sei aber nach der "Berufsordnung für Ärzte" zur eigenverantwortlichen und weisungsfreien Arbeit verpflichtet. Während einer Operation sei sie "auf sich allein gestellt". Anders als bei einem angestellten Zahnarzt, für den der Praxisinhaber im Nebenzimmer jederzeit erreichbar sei, müsse die angestellte Anästhesistin bei Komplikationen während der Operation selbst entscheiden.
Gegen die daraufhin für die Streitjahre ergangenen Gewinnfeststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide legte die Klägerin Einsprüche ein, die das FA als unbegründet zurückwies.
Das FG gab der dagegen erhobenen Klage statt (FG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 28.3.2012, 2 K 336/12, Haufe-Index 3494460, EFG 2013, 129).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des FA als unbegründet zurück.
Die Auffassung des FG, die notwendige – patientenbezogene – leitende Eigenverantwortlichkeit der Gesellschafter der Klägerin sei wegen der ausschließlich von ihnen geführten Voruntersuchungen bei den Patienten, der Festlegung der Behandlungsmethode sowie des Vorbehalts der Selbstbehandlung "problematischer Fälle" gegeben, sei in jeder Hinsicht nachvollziehbar und deshalb nach § 118 Abs. 2 FGO bindend.
Indem das FA die unmittelbare Ausführung der Anästhesietätigkeit durch die Gesellschafter als unverzichtbare Voraussetzung für die Annahme einer eigenverantwortlichen und leitenden ärztlichen Tätigkeit ansehe, überdehne es die Anforderungen des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG und würde damit den Einsatz fachlich vorgebildeten Personals im Bereich der Heilberufe im Ergebnis ausschließen, obwohl der Gesetzgeber dies nicht habe ausschließen wollen.
Hinweis
1. Ob die Mithilfe qualifizierten Personals dazu führt, dass ein Freiberufler "plötzlich" zum Gewerbetreibenden wird, ist eine heikle Frage, die für die Steuerpflichtigen oft genug einen Balanceakt auf der Rasierklinge bedeutet. § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG schreibt dazu vor, dass die Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte für die Freiberuflichkeit des Berufsträgers unschädlich ist, wenn er bei der Erledigung der einzelnen Aufträge "aufgrund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich" tätig wird.
2. Dieses Merkmal bedeutet eine durch den Gesetzgeber (dem die frühere höchstrichterliche Rechtsprechung zu weit ging) vorgenommene Abschwächung der vom RFH erfundenen "Vervielfältigungstheorie", nach der die Beschäftigung von ausgebildeten Mitarbeitern grundsätzlich immer zur Gewerblichkeit führen sollte. Danach musste der Freiberufler grundsätzlich alles persönlich erledigen, weil die freiberufliche Tätigkeit angeblich "um ihrer selbst Willen" und nicht etwa zur Einkünfteerzielung verrichtet wurde. Das war vermutlich schon in früheren Zeiten eine illusionäre Vorstellung von Freiberuflichkeit. Heute ist dieses Bild der freiberuflichen Tätigkeit jedenfalls v...