Prof. Dr. Heinz-Jürgen Pezzer
Leitsatz
1. Hat das FA im Einspruchsverfahren eine Frist bestimmt, bis zu der es dem Steuerpflichtigen möglich sein soll, bei Vermeidung der zugleich angedrohten Verböserung den Einspruch zurückzunehmen, so kann ein Verstoß gegen Treu und Glauben vorliegen, wenn es gleichwohl vor Ablauf der selbst gesetzten Frist die (verbösernde) Einspruchsentscheidung erlässt.
2. Der Verstoß stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der abweichend vom Grundsatz des § 127 AO zur Aufhebung der verbösernden Einspruchsentscheidung führt.
Normenkette
§ 127, § 367 Abs. 2 Satz 2 AO, § 118 Abs. 2 FGO
Sachverhalt
Das FA setzte gegen den Kläger Aussetzungszinsen in Höhe von 168 EUR fest. Dagegen erhob der Kläger Einspruch. Das FA forderte den Kläger auf, seinen Einspruch zu begründen, und teilte im Übrigen mit, die Überprüfung habe ergeben, dass die Zinsen verbösernd auf 1.181 EUR festgesetzt werden müssten. In dem Schreiben heißt es u.a. wörtlich:
„Bitte reichen Sie die erforderliche Einspruchsbegründung bis zum 15.4.2009 nach. ...
Ich bitte um Prüfung und Antwort bis zum 15.4.2009…
Ich rege an, dass Sie den Einspruch bis zum 15.4.2009 schriftlich zurücknehmen.”
Mit Schreiben vom 26.3.2009 begründete der Kläger seinen Einspruch mit einem Satz. Außerdem bat er um Mitteilung, wie die Aussetzungszinsen ermittelt worden seien. Die Zinsfestsetzung sei für ihn nicht nachvollziehbar. Deshalb sei auch eine Einspruchsbegründung "naturgemäß" nicht möglich.
Am 30.3.2009 wies das FA den Einspruch zurück und setzte die Aussetzungszinsen auf 1.181 EUR fest.
Mit Schreiben vom 15.4.2009, bei dem FA eingegangen am 16.4.2009, erklärte der Kläger, er könne zwar den Sachverhalt nicht verstehen, folge jedoch der Anregung des FA und nehme den Einspruch zurück. Die Einspruchsentscheidung sei aufzuheben. Das FA lehnte die Aufhebung ab und erklärte, die Rücknahme des Einspruchs gehe ins Leere.
Dagegen hat der Kläger Klage erhoben, die das FG abgewiesen hat (Niedersächsisches FG, Urteil vom 12.6.2009, 2 K 128/09, Haufe-Index 2330173, EFG 2010, 1006).
Entscheidung
Der BFH hob auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil und die verbösernde Einspruchsentscheidung auf.
Die Einspruchsentscheidung sei rechtswidrig, weil das FA sie vor Ablauf der von ihm selbst gesetzten Frist erlassen habe. Dies verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Der Kläger habe nicht eindeutig zu erkennen gegeben, von der Gelegenheit zur Äußerung und Begründung des Einspruchs keinen Gebrauch mehr machen zu wollen. Die Auslegung seines Schreibens ergebe, dass sich der Kläger eine abschließende Begründung des Einspruchs im Verfahren vorbehalten hatte. Da ihm wegen fehlender Informationen eine abschließende Begründung des Einspruchs noch nicht möglich erschienen sei, könne sein Schreiben (mit der Bitte um Erläuterung der Berechnungsweise) nur so verstanden werden, dass er sich im Hinblick auf die erbetenen Informationen auch die Rücknahme des Einspruchs noch habe offenhalten wollen.
Der im vorzeitigen Erlass der Einspruchsentscheidung liegende Verstoß gegen Treu und Glauben habe zur Folge, dass die Einspruchsentscheidung aufgehoben werden müsse, weil der Verfahrensmangel sonst ohne rechtliche Sanktion wäre.
Dem stehe § 127 AO nicht entgegen. Der Verstoß des FA gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz von Treu und Glauben führe bei beabsichtigter Verböserung im Einspruchsverfahren als wesentlicher Verfahrensmangel zur isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung. Andernfalls bliebe der Verfahrensverstoß sanktionslos; das wäre mit der Wertung des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO nicht vereinbar.
Hinweis
1.In steuerrechtlichen Streitigkeiten wird der Grundsatz von Treu und Glauben immer wieder bemüht: Danach gebietet der im Steuerrechtsverhältnis einschließlich des Verfahrensrechts uneingeschränkt zu beachtende Grundsatz von Treu und Glauben es u.a. auf die schutzwürdigen Belange des jeweils anderen Teils Rücksicht zu nehmen und sich insbesondere nicht zu seinem früheren Verhalten in Widerspruch zu setzen. Schutzwürdig ist der andere Teil, wenn er im berechtigten Vertrauen disponiert oder Dispositionen unterlassen hat.
2. Meistens bleibt die Berufung auf diesen abstrakten Grundsatz allerdings vergeblich. Man könnte mitunter den Eindruck gewinnen, es handele sich um das steuerrechtliche Pendant zum Ungeheuer von Loch Ness: Alle sind von seiner Existenz überzeugt, aber niemand hat es wirklich gesehen.
3. Dieser Fall beweist indes, dass der Grundsatz von Treu und Glauben im Steuerrecht nicht nur abstrakt existiert, sondern im Einzelfall sogar handfeste Rechtsfolgen zugunsten des Steuerpflichtigen zeitigen kann:
a) |
Eine vom FA im Verfahren selbst gesetzte Frist muss beachtet werden. Widerspruchsfrei verhält sich die Behörde nur, wenn sie vor ihrer Entscheidung den Ablauf der selbst gesetzten Frist abwartet, denn die Fristbestimmung schließt die Zusage ein, dass vor Ablauf der Frist nicht entschieden wird. |
b) |
Schutzwürdig ist der Steuerpflichtige, wenn er aus der maßgeblichen Sicht eines objektiven Betei... |