Tz. 56
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ein Steuerbescheid (s. Rz. 4) muss aufgrund einer irrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts (s. Rz. 8 f.) ergangen sein. Irrige Beurteilung bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes nachträglich als unrichtig erweist (z. B. BFH v. 12.02.2015, VI R 38/13, BStBl II 2017, 31; BFH v. 04.02.2016, III R 12/14, BStBl II 2016, 818). Die von der Finanzbehörde gezogenen steuerrechtlichen Folgerungen müssen sich im Nachhinein als unzutreffend erweisen. Eine lediglich vom FA angenommene, tatsächlich aber nicht bestehende Unrichtigkeit rechtfertigt die Anwendung des § 174 Abs. 4 AO nicht (von Wedelstädt in Gosch, § 174 AO Rz. 95). Auf rechtmäßige Bescheide ist § 174 Abs. 4 AO auch nicht analog anwendbar (FG Ddorf v. 17.03.1998, 9 K 1307/95, EFG 1998, 1308). Der Irrtum des FA kann sich auf das Steuersubjekt (Stpfl., Inhaltsadressaten), das Steuerobjekt oder den Veranlagungszeitraum beziehen (BFH v. 26.10.1994, II R 84/91, BFH/NV 1995, 476). Der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler kann rechtlicher oder tatsächlicher Natur sein (z. B. BFH v. 24.04.2013, II R 53/10, BStBl II 2013, 755; BFH v. 04.02.2016, III R 12/14, BStBl II 2016, 818). Auch das Übersehen einer möglichen Rechtsfolge erlaubt die Änderung nach § 174 Abs. 4 AO (BFH v. 08.04.1992, X R 213/87, BFH/NV 1993, 406). Die Änderung ist nicht ausgeschlossen, weil das FA vorsätzlich fehlerhaft gehandelt hat (BFH v. 10.05.2012, IV R 34/09, BStBl II 2013, 471 m. w. N.; BFH v. 25.10.2016, X R 31/14, BStBl II 2017, 287; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1215; a. A. von Groll in HHSp, § 174 AO Rz. 236 m. w. N.; Frotscher in Schwarz/Pahlke, § 174 AO Rz 171; Koenig in Koenig, § 174 AO Rz 60). Eine Einschränkung ergibt sich in diesen Fällen aber aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (BFH v. 25.10.2016, X R 31/14, BStBl II 2017, 287; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1215). Die Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 4 AO ist dagegen nicht eröffnet, wenn der Irrtum nicht den Sachverhalt, sondern nur die Geltendmachung des Steueranspruchs, bspw. durch Verwechslung der Bekanntgabeadresse, betrifft. Unerheblich ist, ob die irrige Beurteilung durch den Stpfl. veranlasst wurde.
Tz. 57
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Irrt das FA darüber, welchen Besteuerungszeitraum ein bestimmter Sachverhalt betrifft, und wird ein solcher Irrtum später aufgedeckt und zugunsten des Stpfl. korrigiert, so steht die Festsetzungsverjährung der Änderung des Bescheids dann nicht entgegen, wenn dieser im Zeitpunkt des Erlasses des später geänderten oder aufgehobenen Steuerbescheids noch hätte korrigiert werden können (BFH v. 29.06.2005, X R 38/04, BFH/NV 2005, 1751).
Tz. 58
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die irrige Beurteilung muss sich in einem wirksamen, also nicht nichtigen Steuerbescheid (§§ 125, 124 Abs. 3 AO) niedergeschlagen haben (BFH v. 27.02.1997, IV R 38/96, BFH/NV 1997, 388). § 174 Abs. 4 AO verlangt im Gegensatz zu § 174 Abs. 1 bis 3 AO keine Ausschließlichkeit, d. h. der Sachverhalt kann sowohl in dem zugunsten des Stpfl. geänderten als auch in dem zu ändernden Bescheid zu berücksichtigen sein (BFH v. 02.05.2001, VIII R 44/00, BStBl II 2001, 562), was die Eigenständigkeit dieser Korrekturnorm unterstreicht.
Tz. 59
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Fehlerhafte Bilanzansätze können nicht nach § 174 Abs. 4 AO durch eine Rückwärtsberichtigung korrigiert werden (BFH v. 10.11.1997, GrS 1/96, BStBl II 1998, 83). Wegen des formellen Bilanzzusammenhangs sind die Bilanzansätze des Vorjahres zu übernehmen, sodass es an einer irrigen Beurteilung fehlt (s. § 173 AO Rz. 11; Musil, DStZ 2005, 362).