Katharina Wagner, Dr. Klaus J. Wagner
a) Allgemeines
Tz. 16
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine gegenüber § 100 Abs. 2 FGO vorrangige Rückkehr zum Kassationsprinzip enthält § 100 Abs. 3 FGO. Die Vorschrift soll dem Finanzgericht die Möglichkeit eröffnen, einer Finanzbehörde, die ihrer Ermittlungspflicht nicht nachkommt, weitere Ermittlungen aufzuerlegen und auf diese Weise die Gerichte entlasten. § 100 Abs. 3 FGO gilt für alle Anfechtungsklagen; der Anwendungsbereich ist nicht auf die in § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO beschriebenen Verwaltungsakte beschränkt. Bei Verpflichtungsklage findet § 100 Abs. 3 FGO keine Anwendung (BFH v. 09.08.2011, VII R 46/10, BFH/NV 2012, 1078). Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Eine solche Entscheidung darf das Gericht nur binnen sechs Monaten nach Eingang der Akten der Behörde treffen (§ 100 Abs. 3 Satz 5 FGO) nicht aber, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind (§ 100 Abs. 3 Satz 2 FGO). Die praktische Bedeutung dieser Vorschrift ist gering.
b) Keine Kassation in Schätzungsfällen
Tz. 17
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach § 100 Abs. 3 Satz 2 AO besteht die Kassationsmöglichkeit nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO nicht, soweit der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind (BFH v. 18.05.1999, I R 102/98, BFH/NV 1999, 1492). Daraus ergibt sich, dass es auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Klageerhebung ankommt, die Ermittlungslast also auch dann voll dem Gericht aufgebürdet wird, wenn, wie das häufig der Fall ist, die Steuererklärungen der Klageschrift beigefügt oder nachgereicht werden. Die Einschränkung ist nicht so ganz nachvollziehbar. § 100 Abs. 3 Satz 2 FGO schließt die Kassation auch in den Fällen der Teilschätzung aus ("soweit").
c) Sechs-Monats-Frist
Tz. 18
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Kassationsmöglichkeit nach § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO setzt zusätzlich voraus, dass eine derartige Entscheidung binnen sechs Monaten nach Eingang der Akten bei Gericht (zur Verpflichtung der Behörde zur Aktenvorlage, § 71 Abs. 2 FGO) ergeht. Die Sechsmonatsfrist beginnt mit dem Akteneingang. Warum der Vorsitzende oder der Berichterstatter dadurch gezwungen wird – soll dem Gericht die Entlastungsmöglichkeit, die § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO gewährt, überhaupt zugute kommen – sämtliche Streitsachen unverzüglich nach Akteneingang darauf zu prüfen, ob die weiteren Voraussetzungen, die § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO selbst gegeben sind, ist schwer einsichtig und führt dazu, dass die Vorschrift wenig angewandt wird.
d) Weitere Voraussetzungen
Tz. 19
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ist § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO danach überhaupt anzuwenden, so hat das Gericht zu prüfen,
- ob die für die Spruchreife noch erforderlichen Ermittlungen nach Art und Umfang erheblich sind, was eine auf den Aufklärungsumfang und die Entscheidungserheblichkeit von weiteren Sachaufklärungsmaßnahmen bezogene Rechtmäßigkeitsprüfung umfasst, und
- ob die Aufhebung des Verwaltungsakts (und der etwa ergangenen außergerichtlichen Rechtsbehelfsentscheidung) auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist (s. zur Sachdienlichkeit FG Sachsen v. 09.03.2017, 6 K 1201/16, BB 2017, 1891).
In beiderlei Hinsicht wird dem Gericht eine in sein pflichtgemäßes Ermessen gestellte nach seiner materiellrechtlichen Sicht (auf Verfahrensfehler der Behörde kommt es nicht mehr an, sodass deren Sicht unerheblich ist) ausgerichtete Gewichtung verlangt. Im Rahmen dieser Abwägung wird für die Sachdienlichkeit insbes. auch zu berücksichtigen sein, dass einerseits Sachaufklärung durch das Gericht im Regelfall mit größerem Aufwand und höheren Kosten verbunden ist, als Ermittlungsmaßnahmen der Finanzbehörde und andererseits dem Kläger die Möglichkeit der gründlichen Sachaufklärung im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren verloren gehen würde.