Katharina Wagner, Dr. Klaus J. Wagner
Tz. 9
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Das Gericht entscheidet nach der von ihm gewonnenen Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Damit macht das Gesetz die richterliche Überzeugung zum Maß der Beweiswürdigung (zur Überzeugungsbildung vgl. BFH v. 24.03.2009, VI B 106/08, BFH/NV 2009, 1122; BFH v. 03.05.2016, VIII R 4/13, BFH/NV 2016, 1275). Die Überzeugung muss sich auf die beweiserheblichen Tatsachen beziehen, davon unabhängig ist die rechtliche Würdigung dieser Tatsachen. Eine willkürliche Beweiswürdigung, die so schwerwiegende Fehler aufweist, dass sie unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar erscheint, ist verfahrensfehlerhaft (BFH v. 09.11.2011, II B 105/10, BFH/NV 2012, 254). Überzeugung ist weniger als Gewissheit, aber ein so hoher Grad an Wahrscheinlichkeit, dass er nach der Lebenserfahrung annähernd der Gewissheit gleichkommt. Teilweise wird die Formel verwendet, dass es ausreichend ist, wenn sich der Sachverhalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt (s. nur BFH v. 18.02.2000, V B 149/99, BFH/NV 2000, 974). Auch andere Begriffsbestimmungen (s. Nachweis bei Seer in Tipke/Kruse, § 96 FGO Rz. 65 ff.) gehen davon aus, dass es zur Wahrheitsfindung ohne Zweifel des Beweiswürdigenden nur selten kommen kann, sodass die Überzeugungsbildung i. d. R. bei einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit gegeben ist. Stets bedarf es einer Gesamtwürdigung aller Umstände, wobei bei inneren Tatsachen (z. B. Gewinnerzielungsabsicht) auf die für die Überzeugungsbildung maßgeblichen Indizien abzustellen ist. Dieser Maßstab gilt auch bei der Feststellung, ob Straftatbestände (z. B. für Haftungs- oder Verjährungsfragen) erfüllt sind; der strafrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo" findet im finanzgerichtlichen Prozess keine Anwendung.
Tz. 10
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 FGO; hierzu BFH v. 17.09.1997, II R 44/95, BFH/NV 1998, 590; BFH v. 26.07.2010, VIII B 198/09, BFH/NV 2010, 2096 m. w. N.) besagt, dass die Überzeugung grundsätzlich aufgrund eigener Anschauung des erkennenden Gerichts (Senat oder Einzelrichter) beruhen muss. Dass nicht alle erkennenden Richter an der Zeugenvernehmung teilgenommen haben, führt nicht automatisch zu einem Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz. Das Gericht kann allerdings auf den persönlichen Eindruck des Zeugen nur abstellen, wenn er in den Akten festgehalten ist und die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten (BFH v. 16.12.2014, X B 114/14, BFH/NV 2015, 511). Allerdings ist es dem Gericht nicht verwehrt, auch fremde Beweisergebnisse zu verwerten. Dies gilt z. B. für die Beweiserhebung durch den verordneten Richter (§ 81 Abs. 2 FGO), aber auch für die Übernahme von Erkenntnissen aus Strafverfahren (s. BFH v. 20.08.1999, VII B 6/99, BFH/NV 2000, 215; BFH v. 19.12.2011, VII B 28/11, BFH/NV 2012, 752 m. w. N.), es sei denn, dass die Beteiligten gegen die strafgerichtlichen Feststellungen substantiierte Einwendungen erheben und entsprechende Beweisanträge stellen, die das FG nicht nach den allgemeinen für die Beweiserhebung geltenden Grundsätzen unbeachtet lassen kann. Im Übrigen ist die Frage, inwieweit das Gericht bei Erlass des Urteils an Entscheidungen anderer Behörden, desgl. an Entscheidungen von Gerichten anderer Zweige der Gerichtsbarkeit gebunden ist, prinzipiell nicht anders zu beantworten als für die Finanzverwaltungsbehörden beim Erlass des Steuerbescheides (s. § 88 AO Rz. 13). Entscheidungen von rechtsgestaltender Wirkung sind im Zweifel auch für das Gericht verbindlich, es sei denn, dass es sich um eine offenbare Fehlentscheidung handelt, oder dass veränderte tatsächliche Verhältnisse eine Abweichung rechtfertigen. Entscheidungen anderer Behörden von rechtsfeststellendem Inhalt sind für die Finanzgerichte zwar nicht rechtsverbindlich, sollten aber – wenn sie von der funktionell und sachlich zuständigen Stelle herrühren – schon um der rechtsstaatlichen Ordnung willen respektiert werden. Jedenfalls ist das Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung nicht gehindert, sich die ihm zutreffend erscheinenden tatsächlichen Feststellungen, Beweiswürdigungen Dritter zu eigen zu machen (BFH v. 13.06.1973, VII R 58/71, BStBl II 1973, 666).