Tz. 2

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Tatsache ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (st. Rspr. BFH v. 28.06.2006, III R 13/06, BStBl II 2007, 714 m. w. N.; AEAO zu § 173, Nr. 1.1). Bei den Besteuerungsgrundlagen i. S. von § 199 Abs. 1 AO handelt es sich um Tatsachen i. S. des § 173 AO, ebenso die persönlichen Verhältnisse des Stpfl. wie z. B. Alter, Körperbehinderung, Beruf, Konfession (FG BW v. 04.07.1986, IX 231/82, EFG 1987, 158) bzw. Kirchenmitgliedschaft (FG BW v. 18.12.1998, 9 K 252/93, juris), Familienstand, Zahl der Kinder, die Art der Einkünfteerzielung (z. B. BFH v. 24.04.1986, V R 99/83, BFH/NV 1986, 589), die einzelnen (Betriebs-)Einnahmen (§§ 4, 8 EStG) sowie Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 4 EStG) bzw. Werbungskosten (§ 9 EStG) und deren Zeitpunkt. Um Tatsachen handelt es sich auch bei vorgreiflichen zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen (s. Rz. 8; vgl. zum Vorstehenden von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 3; Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 816). Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO können auch durch komplexe Begriffe, die eine Zusammenfassung von Tatsachen enthalten und auf einer bestimmten rechtlichen Wertung derselben beruhen, bezeichnet werden (BFH v. 25.01.2017, I R 70/15, BStBl II 2017, 780). Maßgeblich ist dabei nicht die rechtliche Wertung, die nicht zu einer Änderung nach § 173 Abs. 1 AO führen kann, sondern der dieser Wertung zugrunde liegende Lebenssachverhalt als Zusammenfassung der besteuerungsrelevanten Tatsachen.

 

Tz. 2a

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Schlussfolgerungen aller Art, insbes. auch juristische Subsumtionen und hierauf beruhende Gerichtsentscheidungen sind keine Tatsachen (BFH v. 28.06.2006, III R 13/06, BStBl II 2007, 714; BFH v. 27.01.2011, III R 90/07, BStBl II 2011, 543; BFH v. 09.04.2014, X R 1/11, BFH/NV 2014, 1499; AEAO zu § 173, Nr. 1.1.2) ebenso wenig eine geänderte Rechtsauffassung, also eine andere rechtliche Beurteilung bereits bekannter Umstände (BFH v. 28.06.2006, III R 13/06, BStBl II 2007, 714; BFH v. 26.10.2006, V R 58/04, BStBl II 2007, 487) und eine durch eine Entscheidung des BVerfG erzwungene Gesetzesänderung zugunsten der Stpfl. (Loose in Tipke/Kruse, § 173 AO Rz. 3 m. w. N.; auch s. Vor §§ 172–177 AO Rz. 21). Folglich ist eine vom bestandskräftigen Steuerbescheid abweichende, geänderte rechtliche Würdigung des FA keine Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (BFH v. 08.07.2015, VI R 51/14, BStBl II 2017, 13). Ein nachträglich erkannter Rechtsfehler führt daher nicht zu einer Änderung nach § 173 Abs. 1 AO (BFH v. 23.11.1987, GrS 1/86, BStBl II 1988, 180; BFH v. 09.04.2014, X R 1/11, BFH/NV 2014, 1499). Anders z. B. aber die Tatsache des Erhebungs- und Vollzugsdefizits, denn hierbei handelt es sich nicht um einen Subsumtionsschluss und damit nicht um eine rechtliche Schlussfolgerung (Balmes/Graessner, BB 2009, 468, FG Köln v. 12.06.2008, 10 K 1820/05, EFG 2008, 1593; a. A. BFH v. 12.05.2009, IX R 45/08, BStBl 2009, 891).

 

Tz. 3

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Zu den Tatsachen gehören auch innere Tatsachen, wie die Gewinn- oder Überschusserzielungsabsicht, die nur anhand von Hilfstatsachen festgestellt werden können (z. B. BFH v. 07.04.2016, IV R 38/13, BStBl II 2016, 765; BFH v. 20.10.2016, V R 36/14, BFH/NV 2017, 327). Die Änderung nach § 173 Abs. 1 AO ist dann zulässig, wenn die nachträglich entstandene Hilfstatsache den sicheren Schluss auf die zum Zeitpunkt der Steuerfestsetzung bestehende Haupttatsache zulässt; Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten reichen dazu nicht (z. B. BFH v. 19.10.2011, X R 29/10, BFH/NV 2012, 227; BFH v. 19.11.2014, VIII R 12/12, DÄ 2015, A 1160). Hilfstatsachen führen nicht zu einer anderen Steuer, sondern haben steuerliche Auswirkungen nur dann, wenn sie den Schluss auf die Haupttatsache zulassen.

 

Tz. 4

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Die fehlende Kenntnis von bestimmten objektiven Voraussetzungen einer Steuerrechtsnorm ist hingegen keine zur Änderung eines Steuerbescheides führende Tatsache (BFH v. 25.01.2001, II R 52/98, BStBl II 2001, 414 für die Unkenntnis eines Antragserfordernisses und eines Freibetrages). Nach h. M. ist die Verfassungswidrigkeit der steuerrechtlichen Regelung keine neue Tatsache (von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 8 f.; Rüsken in Klein, § 173 AO Rz. 24; a. A. Felix, FR 1992, 693). Entscheidungen des BVerfG beruhen auf rechtlichen Erwägungen und Schlussfolgerungen und stellen als juristische Subsumtion nach h. M. keine neuen Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dar (von Wedelstädt, DB 2004, 848; BFH v. 12.05.2009, IX R 45/08, BStBl II 2009, 891; s. Vor §§ 172–177 AO Rz. 21).

 

Tz. 5

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Rechtsnormen sind keine Tatsachen, auch nicht, wenn es sich um ausländisches Recht handelt (BFH v. 13.10.1983, I R 11/79, BStBl 1984, 181; Koenig in Koenig, § 173 AO Rz. 10; Loose in Tipke/Kruse, § 173 AO Rz. 3; a. A. FG Münster v. 26.10.1978, ...

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