Tz. 10

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat nach st. Rspr. eine Rechtssache dann, wenn eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse besteht, weil ihre Klärung das Interesse der Allgemeinheit an der Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Es muss sich um eine aus rechtssystematischen Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche Rechtsentwicklung wichtige Frage handeln (statt aller: BFH v. 26.06.2000, III B 19/00, BFH/NV 2001, 48; BFH v. 08.06.2010, X B 126/09, BFH/NV 2010, 1628). Hiernach genügt nicht schon der Umstand, dass über einen Sachverhalt der streitigen Art bisher nicht entschieden ist; vielmehr muss die Rechtsfrage für eine Mehrzahl gleichgelagerter Fälle von Bedeutung sein, sog. Breitenwirkung. Ein Umkehrschluss, dass jeder Frage, die eine Vielzahl gleichartiger Fälle betrifft, schon deshalb grundsätzliche Bedeutung zukomme, ist dabei nicht möglich (BFH v. 10.02.1995, III B 30/92, BFH/NV 1995, 927). Andererseits entfällt die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage nicht allein deshalb, weil die einschlägige Rechtsnorm außer Kraft getreten ist, wenn ihre seinerzeitige Gültigkeit oder Reichweite in Frage gestellt ist, noch keine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt, noch eine Vielzahl gleichartiger Streitfälle anhängig ist oder eine inhaltsgleiche Nachfolgeregelung geschaffen worden ist (st. Rspr., u. a. BFH v. 18.09.2002, IV B 110/00, BFH/NV 2003, 186; BFH v. 31.10.2013, V B 67/12, BFH/NV 2014, 578). Allerdings kann diese Fallkonstellation ohnehin durch § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO (Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) gedeckt sein.

 

Tz. 11

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die Rechtsfrage – der unbestimmte Rechtsbegriff "Rechtssache" in § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO ist gleichbedeutend damit –, der grundsätzliche Bedeutung beizumessen ist, muss sich auf den tatsächlichen oder möglichen Gegenstand des finanzgerichtlichen Urteils beziehen und für die Entscheidung des Revisionsgerichts erheblich sein (BFH v. 26.08.1986, VII B 107/86, BStBl II 1986, 865). Es muss also eine Rechtsfrage klärungsbedürftig (s. Rz. 20) sein. Die Rechtsfrage braucht nicht dem materiellen Recht – dazu gehört aus finanzgerichtlicher und revisionsrechtlicher Sicht auch das Verwaltungsverfahrensrecht der AO – anzugehören, sie kann sich auch auf das Verfahrensrecht beziehen, nämlich auf als wesentlich erkannte und thematisierte Grundsatzfragen des finanzgerichtlichen Verfahrensrechts.

Auch bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift (nur bei der Bejahung der Verfassungswidrigkeit muss das FG die Sache dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen) kann dieser Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung zukommen. Dabei kann die grundsätzliche Bedeutung nicht mit dem Hinweis darauf verneint werde, der BFH könne – die Verfassungswidrigkeit unterstellt – nicht zugunsten des Rechtsmittelführers entscheiden, weil dann eine Vorlagepflicht an das BVerfG bestehe (BFH v. 28.07.1994, III B 37/90, BStBl II 1994, 795) Grundsätzliche Bedeutung kann aber nicht allein schon daraus hergeleitet werden, dass ein FG ein konkretes Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG eingeleitet hat (BFH v. 13.10.1967, VI B 43/67, BStBl II 1968, 118); dies hängt davon ab, ob sich dem Vorlagebeschluss "vernünftige" Zweifel entnehmen lassen. Allein die rechtlichen Auswirkungen der Rechtssache sind für die Frage der Zulassung maßgeblich, nicht aber die wirtschaftlichen Auswirkungen für den Kläger.

Auch Fragen bezüglich der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit europarechtlichen Vorschriften können die Annahme grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigen. Hier reicht es für die Revisionszulassung aus, wenn wahrscheinlich erscheint, dass der BFH ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH stellen muss (BFH v. 14.03.2000, XI B 135/98, BFH/NV 2000, 883).

 

Tz. 12

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigen die Zulassung der Revision nur dann, wenn es sich um eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage handelt.

Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage nicht, wenn sie sich ohne Weiteres aus dem Gesetz beantworten lässt (BFH v. 18.04.2017, V B 147/16, BFH/NV 2017, 1052). Klärungsbedürftigkeit fehlt auch, wenn die Rechtsfrage bereits durch eine höchstrichterliche Entscheidung geklärt ist, sofern keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind (z. B. BFH v. 28.05.2015, VIII B 40/14, BFH/NV 2015, 1565), desgleichen, wenn es lediglich um die Anwendung fester Rechtsgrundsätze auf einen bestimmten Sachverhalt geht. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage trotz Vorliegens einer Entscheidung des BFH jedoch dann, wenn entweder einzelne Finanzgerichte mit beachtlichen Argumenten der Rechtsprechung des BFH nicht gefolgt sind oder in der Literatur seither neue gewichtige Gründe geltend gemacht wurden, die es geboten erscheinen lassen, dass der BFH seinen Standpunkt nochmals überprüft (BFH v. 21.06.1977, IV B 16–17/77, BStBl II 197...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge