Tz. 18
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Beruht ein Steuerverwaltungsakt auf einer Norm, die im Widerspruch zum Europarecht steht, gibt es keine europarechtliche Ermächtigungsnorm für die Änderung des betroffenen Verwaltungsakts. Nach der Rechtsprechung des EuGH richtet sich die Änderung vielmehr nach dem jeweiligen nationalen Verwaltungsrecht der EU-Mitgliedstaaten (EuGH v. 13.01.2004, C-453/00, Kühne & Heitz, EuGHE 2004, I-837; vgl. auch EuGH, v. 12.02.2008, C-2/06, Kempter, EuZW 2008, 148; dazu Öhlinger/Potacs, S. 88). Allein die Tatsache, dass ein bestandskräftiger Steuerbescheid im Widerspruch zum EU-Recht oder zur Rechtsprechung des EuGH steht, eröffnet nach deutschem Recht – auch unter Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 3 EUV – noch keine Änderungsmöglichkeit. Im deutschen Recht müssen daher die Voraussetzungen des Tatbestandes einer der Korrekturvorschriften der §§ 172ff. AO vorliegen. Weiterhin besteht die Korrekturbefugnis in Deutschland auch nur im Rahmen der Festsetzungsfrist (§§ 169ff. AO; s. § 169 AO Rz. 25). Bei einem nachträglich erkannten Verstoß gegen das Unionsrecht findet keine Durchbrechung der Bestandskraft der Steuerbescheide statt; die Korrekturvorschriften der §§ 172ff. AO regeln die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche also abschließend (BFH v. 16.09.2010, V R 57/09, BStBl II 2011, 151; vgl. auch BVerfG v. 04.09.2008, 2 BvR 1321/07, BVerfGK 14, 217; BVerfG v. 29.05.2012, 1 BvR 640/11, BFH/NV 2012, 1404). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kommt eine Änderung trotz bestehenden Widerspruchs zum Europarechts nicht in Betracht.
Tz. 19
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach der Rspr. des EuGH (EuGH v. 13.01.2004, C-453/00, Kühne & Heitz, EuGHE 2004, I-837) besteht eine Verpflichtung einer nationalen Behörde zur Änderung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts bei einem Widerspruch zum Unionsrecht grds. nur unter folgenden Voraussetzungen (vgl. von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 15 f.):
- Die Behörde ist nach nationalem Recht befugt, den Bescheid zurückzunehmen,
- Der Bescheid ist infolge eines letztinstanzlichen Urteils eines nationalen Gerichts formell bestandskräftig geworden,
- Das Urteil beruht auf unrichtiger Auslegung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts,
- Das Urteil ist ergangen, ohne dass das nationale Gericht den EuGH um Vorabentscheidung (Art. 267 AEUV) ersucht hat,
- Nach Ergehen des Urteils des letztinstanzlichen nationalen Gerichts ist der EuGH zu einer entgegenstehenden Auslegung des Unionsrechts gelangt,
- Der Betroffene hat unmittelbar nach Kenntnis von der entgegenstehenden EuGH-Entscheidung die Änderung des formell bestandskräftigen Bescheids beantragt.
Tz. 20
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Diese EuGH-Rspr. dürfte in erster Linie für Verbrauchsteuern und Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben eine Bedeutung haben. So ermöglichen nur § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 1. HS AO eine voraussetzungslose Korrektur im Rahmen der Festsetzungsfrist gem. §§ 169ff. AO. Bei anderen Steuerarten kann eine nach Erlass des Steuerbescheids ergangene EuGH-Entscheidung i. d. R. nicht mehr berücksichtigt werden. Denn nach h. M. (vgl. von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 16) ist eine spätere EuGH-Entscheidung keine nachträglich bekannt gewordene Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO (allgemein zu Gerichtsurteilen Loose in Tipke/Kruse, § 173 AO Rz. 3 und 5) und auch kein rückwirkendes Ereignis i. S. des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO (allgemein zu Gerichtsurteilen Loose in Tipke/Kruse, § 175 AO Rz. 45). Möglicherweise kann das nachträgliche EuGH-Urteil aufgrund europarechtsfreundlicher Auslegung nach §§ 177, 227 AO berücksichtigt werden. Zum Ganzen Balmes/Graessner, AO-StB 2005, 139; Finke, IStR 2006, 212. Die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 1 AEUV führt nicht zu einer Änderbarkeit des Steuerbescheids (BFH v. 09.06.2010, X B 41/10, BFH/NV 2010, 1783).