Tz. 9
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ein Rechtsfehler und damit keine offenbare Unrichtigkeit liegt vor, wenn die mehr als theoretische Möglichkeit eines verfahrens- oder materiell-rechtlichen Fehlers besteht (BFH v. 17.05.2017, X R 45/16, BFH/NV 2018, 10). Dies ist zumindest dann der Fall, wenn der Unrichtigkeit eine bewusste – wenn auch einfache – Schlussfolgerung auf rechtlichem oder tatsächlichen Gebiet zugrunde liegt, zumindest eine entsprechende Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann und sich der Fehler nicht bloß als das Ergebnis einer von Bewusstseinsprozessen weitgehend unbeeinflussten bloßen Unachtsamkeit darstellt (von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 11; BFH v. 09.12.1998, II R 9/96, BFH/NV 1999, 899; 19.03.2009, IV R 84/06, BFH/NV 2009, 1394). Bei der Prüfung, ob die konkrete Möglichkeit eines Rechtsfehlers besteht, ist nicht eine völlig absurde oder abwegige Rechtsüberlegung durch das FA zu unterstellen. Abzustellen ist auf das Verhalten und die Kenntnisse eines Durchschnittsbearbeiters (von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 19).
Tz. 10
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Beispiele für Rechtsanwendungsfehler und somit kein Anwendungsfall des § 129 AO sind (s. hierzu von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 165 ff.; von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 11 ff.):
- Fehler in der Auslegung oder Anwendung bzw. Nichtanwendung einer Rechtsvorschrift (BFH v. 22.05.2006, X B 182/05, BFH/NV 2006, 1506; zur Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens BFH v. 10.05.2016, IX R 4/15, BFH/NV 2016, 1425; zur fehlerhaften Anwendung der "kurzen Zeit" nach § 11 EStG, BFH v. 03.05.2017, X R 4/16, BFH/NV 2017, 1415); hierzu zählt auch, dass eine erforderliche rechtliche Prüfung unterbleibt.
- Fehler in der Sachverhaltsermittlung; diese liegen vor bei unterlassener Sachverhaltsaufklärung sowie in den Fällen, in denen infolge unzureichender oder fehlerhafter Sachaufklärung feststehende Tatsachen bei der Entscheidung nicht beachtet oder übersehen werden, weil z. B. der Akteninhalt – auch der Vorjahre – nicht hinzugezogen und deshalb übersehen wurde oder Widersprüchen in der Steuererklärung nicht nachgegangen wurden (BFH v. 30.01.2006, III B 2/05, BFH/NV 2006, 910; von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 13). Der Umfang der Sachverhaltsaufklärung richtet sich nach § 88 AO. Die Finanzbehörde verletzt ihre Amtsermittlungspflicht nur, wenn sie offenkundigen Unklarheiten oder Zweifeln, die sich nach der Sachlage ohne Weiteres aufdrängen, nicht nachgeht und Ermittlungsmöglichkeiten nicht nutzt, deren Ergiebigkeit offenkundig ist (BFH v. 15.05.2007, XI B 147/06, BFH/NV 2007, 1632; FG Münster v. 13.10.2010, 7 K 4838/08 E, EFG 2011, 760). Unerheblich ist, ob die Amtsermittlungspflicht zugunsten oder zu Ungunsten des Steuerpflichtigen verletzt wurde (BFH v. 14.02.1995, IX R 101/93, BFH/NV 1995, 1033). Hat die Nichtberücksichtigung einer Tatsache dagegen ihren Grund in einer bloßen Unachtsamkeit und liegt diese offen, beruht diese nicht auf mangelnder Sachaufklärung und ist eine Unrichtigkeit i. S. des § 129 Abs. 1 AO gegeben (BFH v. 13.09.2005, X B 55/05, BFH/NV 2005, 2158).
- Danach ist auch das bewusste Unterlassen des Abgleichs der elektronisch beigestellten Daten zur Lohnsteuer mit der Steuererklärung des Stpfl. kein mechanisches Versehen des FA (BFH v. 16.01.2018, VI R 38/16, juris; v. 16.01.2018, VI R 41/16, BFH/NV 2018, 513).
- Fehler in der Tatsachenwürdigung die mit einer wertenden Beurteilung zusammenhängen und keine mechanischen Fehler sind (BFH v. 13.09.2005, X B 55/05, BFH/NV 2005, 2158; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 168).
- Denk- und Überlegungsfehler, die sich zwar nicht unmittelbar auf die Rechtsanwendung beziehen, die sich aber auf die Annahme eines falschen Sachverhalts beziehen, soweit der Amtsträger den Sachverhalt in seine Willensbildung einbezogen hat oder bei erforderlicher Prüfung hätte einbeziehen müssen. Dagegen liegt kein Rechtsfehler, sondern eine offenbare Unrichtigkeit vor, wenn der richtige Sachverhalt nicht in die Willensbildung einbezogen wird, weil sich der Amtsträger verlesen oder etwas übersehen hat (BFH v. 26.04.1989, VI R 39/85, BFH/NV 1989, 619; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 171).
Tz. 11
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Beispiele für die Annahme eines mechanischen Fehlers (s. auch von Wedelstädt in Bartone/Wedelstädt, Rz. 175 ff.; von Wedelstädt in Gosch, § 129 AO Rz. 8 ff. und 47 ff.; Seer in Tipke/Kruse, § 129 AO Rz. 18 ff.):
- EDV-: Fehler bei der Codierung, d. h. bei der Umsetzung des Programms in die Formelsprache des Computertyps (Ausfüllen des Eingabewertbogens) sind grundsätzlich offenbare Unrichtigkeiten, da rechtliche Erwägungen nicht angestellt werden (BFH v. 28.09.1984, III R 10/81, BStBl II 1985, 32 ff.); Eingabefehler sind mechanische Versehen bei Irrtümern über den Ablauf des maschinellen Verfahrens (BFH v. 07.03.2002, VI B 4/02, BFH/NV 2002, 759 m. w. N.), bei der Außerachtlassung der für das maschinelle Verfahren geltenden innerdienstlichen Vorschriften ...