Tz. 30
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Judikate jedweder Art – auch diejenigen von EGMR, EuGH und BVerfG – und das sog. Richterrecht sind keine Rechtsnormen, denn die Aufgabe der Gerichte ist die Rechtsprechung, nicht die Rechtsetzung; die Gerichte dürfen sich mithin im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nicht in die Rolle einer normsetzenden Instanz begeben (h. M., z. B. BVerfG v. 12.11.1997, 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94, BVerfGE 96, 375; Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 20 GG Rz. 42 m. w. N.; a. A. Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 110 ff.). Dem entspricht es, dass die Rechtskraftwirkung von Entscheidungen insbes. nur zwischen den Beteiligten des Verfahrens und deren Rechtsnachfolgern wirkt ("inter partes", § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO; s. § 110 FGO Rz. 3 ff.). Lediglich im Sonderfall des § 176 Abs. 1 AO als spezielle Ausprägung des Vertrauensschutzes (s. Rz. 9) wird eine gewisse allgemeine, über den entschiedenen Einzelfall hinausgehende rechtliche Bindung erzeugt (s. § 176 AO Rz. 1 ff.).
Tz. 31
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Von der allgemeinen Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG nach § 31 Abs. 1 BVerfGG und dem Sonderfall der Entscheidungen des BVerfG mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) abgesehen binden die Entscheidungen der Gerichte – auch der FG – nur die am Prozess Beteiligten (§ 57 FGO; s. Rz. 30) in einem konkreten Einzelfall. Dies gilt auch für das einem Revisionsverfahren gem. § 122 Abs. 2 FGO beigetretene BMF. Im Hinblick darauf und auf das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) ist die Finanzverwaltung daher nicht gehindert, in sog. Nichtanwendungserlassen gegenüber den nachgeordneten Behörden anzuordnen, dass Entscheidungen des BFH über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden sind. Das mag dem einen oder anderen missfallen, entspricht aber den verfassungsrechtlichen Gegebenheiten. Ebenso darf der Gesetzgeber Normen erlassen ("Nichtanwendungsgesetze"), mit denen er die höchstrichterliche Finanzrechtsprechung aushebelt und bestimmte Sachverhalte für die Zukunft anders regelt, als dies nach der Rechtsprechung geschehen müsste. Eine gewisse mittelbare Bindungswirkung entfaltet die Rechtsprechung insoweit, als ihre Außerachtlassung durch den steuerlichen Berater einen Schadenersatzanspruch gegen ihn begründen kann (z. B. BGH v. 19.12.1989, XI ZR 29/89, BB 1990, 515; KG Berlin v. 08.09.2006, 4 U 119/05, OLG-Report 2006, 1054; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 121). Die nicht zeitnahe Beachtung einer (geänderten) höchstrichterlichen Rechtsprechung kann u. U. einen Amtshaftungsanspruch aus Art. 34 GG, § 839 BGB begründen (OLG Koblenz v. 17.07.2002, 1 U 1588/01NVwZ-RR 2003, 168; Balmes/v. Collenberg, AO-StB 2003, 77; Lange, DB 2003, 360; Drüen in Tipke/Kruse, § 32 AO Rz. 15).
Tz. 32-33
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
vorläufig frei