Tz. 35
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 1 müssen nach h. M. zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führen. Daraus wird geschlossen, dass eine Änderung des betreffenden Steuerbescheids aufgrund einer neuen Tatsache nur in Betracht kommt, wenn sich aus der Berücksichtigung der neuen Tatsache im Verhältnis zum Ausgangsbescheid abweichende steuerliche Folgen ergeben, die neue Tatsache also kausal für die höhere oder niedrigere Steuer ist. Dies ist der Fall, wenn das FA bei rechtzeitiger Kenntnis des wahren Sachverhalts in der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre (st. Rspr.; z. B. BFH v. 23.11.1987, GrS 1/86, BStBl II 1988, 180; BFH v. 25.01.2017, I R 70/15, BStBl II 2017, 780; vgl. auch Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 861; von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 27; a. A. Krebs, AO-StB 2005, 77). Die neue Tatsache muss demnach rechtserheblich sein. An einer solchen steuerlichen Erheblichkeit fehlt es demnach, wenn die Finanzbehörde auch in Kenntnis der Tatsachen nicht anders veranlagt hätte (BFH v. 23.11.1987, GrS 1/86, BStBl II 1988, 180; BFH v. 15.03.2007, III R 57/06, BFH/NV 2007, 1461; AEAO zu § 173, Nr. 3.1) oder wenn die steuerlichen Folgen der Tatsache nur dann eintreten, wenn der Stpfl. dies beantragt oder wenn die steuerliche Folge in anderer Weise von einer Willensentscheidung des Stpfl. abhängt (s. Rz. 14 ff.).
Tz. 36
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Tatsachen, die die Finanzbehörde früher für unmaßgeblich gehalten hat, dürfen nicht dazu benutzt werden, eine geänderte Rechtsauffassung anzuwenden; jedoch muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die Finanzbehörde auch in Kenntnis des vollständigen Sachverhalts nicht anders entschieden hätte, die bloße "Möglichkeit" genügt nicht (BFH v. 20.06.2001, VI R 70/00, BFH/NV 2001, 1527; BFH v. 09.04.2014, X R 1/11, BFH/NV 2014, 1499). Wie die Behörde bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in ihrem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und der die Behörde bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Verwaltungsakts gegolten haben (BFH v. 22.04.2010, VI R 27/08, BFH/NV 2010, 1607). Liegen unmittelbar zu der umstrittenen Rechtslage weder BFH-Rspr. noch bindende Verwaltungsanweisungen vor, so ist aufgrund anderer Umstände abzuschätzen, wie das FA in Kenntnis des vollständigen Sachverhaltes entschieden hätte (BFH v. 22.04.2010, VI R 27/08, BFH/NV 2010, 1607). Auch sind interne Schreiben und Mitteilungen etwa eines Landesfinanzministeriums an das BMF zu berücksichtigen. Eine Beurteilung der Rechtserheblichkeit von Tatsachen nach einem hypothetischen Kausalverlauf allein nach den idealtypischen Rechtskenntnissen des Veranlagungssachbearbeiters ist unzulässig (BFH v. 22.04.2010, VI R 27/08, BFH/NV 2010, 1607; Günther, AO-StB 2010, 338). Lassen sich frühere Rspr. und Verwaltungsanweisungen nicht feststellen, so muss die Finanzbehörde darlegen, welche Verwaltungsübung im Zeitpunkt der ursprünglichen Steuerfestsetzung bestand (BFH v. 14.12.1994, XI R 80/92, BStBl II 1995, 293; BFH v. 29.04.1997, VII R 1/97, BStBl II 1997, 627); sie trägt insoweit die objektive Feststellungslast. Für die Feststellung der mutmaßlichen Entscheidung der Behörde aufgrund Rechtsprechung und Verwaltungsanweisungen sind subjektive Fehler unbeachtlich, wie sie den Finanzbehörden in Parallelverfahren sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht unterlaufen sein mögen (BFH v. 11.05.1988, I R 216/85, BStBl II 1988, 715; BFH v. 21.01.2015, X R 16/12, BFH/NV 2015, 815). Ist der Finanzbehörde beim Erlass des ursprünglichen Bescheids ein Rechtsfehler unterlaufen, so steht dieser einer Änderung aufgrund nachträglich bekannt gewordener Tatsachen dann nicht entgegen, wenn diese ungeachtet des Fehlers bedeutsam sind (BFH v. 07.06.1989, II R 13/86, BStBl II 1989, 694). Zur Rechtserheblichkeit bei unbefristeten Dauerbescheiden mit Dauerwirkung z. B. bei der KraftSt, von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 32.
Tz. 37
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
vorläufig frei