Tz. 34
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die tatsächliche Verständigung ist unwirksam, wenn sie unter Ausübung von unzulässigem Druck oder unter der Drohung mit einem noch anhängigen Strafverfahren zustande kommt (FG Münster v. 29.01.1996, 8 V 5581/95 E, EFG 1996, 464; BMF v. 30.07.2008, BStBl I 2008, 831, Nr. 8), wenn
- entweder der Stpfl. Tatsachen verschwiegen oder das FA seine Ermittlungspflicht verletzt hat und damit bei Abschluss der Verständigung keine Sachverhaltsunsicherheit vorlag (BFH v. 20.08.1997, I B 32/97, BFH/NV 1998, 333; Seer, Verständigungen in Steuerverfahren, 412; Seer, BB 1999, 78, 84; von Wedelstädt, AO-StB 2001, 190, 193),
- keine erschwerte Sachverhaltsermittlung vorliegt (BFH v. 20.08.1997, I B 32/97, BFH/NV 1998, 333; von Wedelstädt, DB 1991, 515, 516),
- die tatsächliche Verständigung ausschließlich Rechtsfragen betrifft (s. Rz. 21) oder
- sie zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt (BFH v. 01.09.2009, VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593 m. w. N.; BMF v. 30.07.2008, BStBl I 2008, 831, Nr. 8.1 Abs. 3; von Wedelstädt, AO-StB 2001, 190, 191; s. Rz. 24).
Weitere Gründe für die Unwirksamkeit ergeben sich aus den entspr. anzuwendenden Vorschriften des BGB wie Scheingeschäft, § 117 BGB, Anfechtungsgründe, §§ 119, 120, 123 BGB (BFH v. 01.09.2009, VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593 m. w. N.), offener Einigungsmangel, § 154 BGB, Mängel in der Vertretung, z. B. nach §§ 164ff. BGB und Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB (s. auch BMF v. 30.07.2008, BStBl I 2008, 831, Nr. 8). Eine tatsächliche Verständigung ist nicht schon deshalb bei einem Irrtum über ihre steuerlichen Folgen (BFH v. 08.10.2008, I R 63/07, BStBl II 2009, 121 m. w. N.; BFH v. 11.04.2017, IX R 24/15, BStBl II 2017, 1155 m. w. N.) oder bei einem Irrtum über ihre Reichweite (BFH v. 01.09.2009, VIII R 78/06, BFH/NV 2010, 593) unwirksam.
Tz. 35
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Unwirksamkeitsgründe können vor Erlass des Steuerbescheids, der die tatsächliche Verständigung berücksichtigen soll, von beiden Seiten geltend gemacht werden, nach Erlass des Steuerbescheids nur dann, wenn der Steuerbescheid verfahrensrechtlich noch änderbar ist, etwa weil er angefochten wurde oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht.
Tz. 35a
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Die Bindung der Beteiligten an die tatsächliche Verständigung kann nach den Grundsätzen über das Fehlen oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage ausnahmsweise (nachträglich) entfallen, wenn ihr eine (irrtümlich) angenommene gemeinsame Geschäftsgrundlage von vornherein gefehlt hat oder wenn sie nachträglich weggefallen ist und einem der Beteiligten ein Festhalten an dem Vereinbarten nicht (mehr) zuzumuten ist (BFH v. 11.04.2017, IX R 24/15, BStBl II 2017, 1155, insbes. Rz. 21 m. w. N.). Der BFH lässt es dabei offen, ob auf die tatsächliche Verständigung im Steuerverfahren die zivilrechtlichen Regelungen zur Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) anwendbar sind oder ob stattdessen § 60 VwVfG entsprechende Anwendung findet, da beide Vorschriften in den hier zu entscheidenden Fragen inhaltsgleich auszulegen sind. Bei Annahme einer vertraglichen Regelung mit der h. M. in der Literatur kommt § 313 BGB in Betracht.