Karl Blesinger, Dr. Andreas Viertelhausen
Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die strafbefreiende Selbstanzeige, die über den Rücktritt vom Versuch (s. § 24 StGB) hinaus auch die vollendete Tat betrifft, findet verschiedene Rechtfertigungen. So gibt es steuerpolitische Erwägungen: Wer eine dem FA unbekannte Steuerquelle zum Fließen bringt oder – nüchterner ausgedrückt – bisher nicht oder zu wenig gezahlte Steuern offenlegt und nachentrichtet, dem gegenüber kann strafrechtlich Nachsicht gewährt werden. Daher wird die Selbstanzeige als unverzichtbar angesehen (BT-Drs. 17/2823, 29). Allein diese rein fiskalische Sicht greift jedoch zu kurz. Man darf nicht außer Acht lassen, dass die Möglichkeit der Selbstanzeige eine Lösung langfristig angelegter Interessenkollisionen anbietet. Wer z. B. in der Vergangenheit Steuern hinterzogen hat, könnte nicht ohne Weiteres für die Zukunft seine Besteuerungsgrundlagen offenlegen, weil er fürchten müsste, das FA könnte Rückschlüsse für die Vergangenheit ziehen. Auch wer unrichtige Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben hat, könnte nur um den Preis strafrechtlicher Verfolgung eine zutreffende Jahresanmeldung abgeben. Selbst die verspätete Abgabe einer Steueranmeldung wäre mit Hinblick auf den in § 370 Abs. 4 Satz 1 AO umschriebenen Taterfolg (nicht rechtzeitige Festsetzung) problematisch. Die Möglichkeit der Selbstanzeige bietet hier einen zumutbaren Weg, der den Betroffenen nicht zwingt, die Rückkehr in die Steuerehrlichkeit um den Preis der strafrechtlichen Selbstbelastung zu erkaufen. Einige Autoren(Joecks in JJR, § 371 AO Rz. 20 ff.; Roth, NWB 2010, 1004; Wulf/Kamps, DB 2011, 1711) sprechen sich daher zu Recht auch für eine strafrechtliche Begründung der Vorschrift aus. Andere Überlegungen gehen dahin, auf die "Privilegierung" zu verzichten (Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion v. 20.04.2010, BT-Drs. 17/1411; Eigentahler, StW 2010, 32). Der BGH verlangt eine doppelte Rechtfertigung der Selbstanzeige, nämlich einerseits durch die Erschließung bisher verborgener Steuerquellen und andererseits durch die Rückkehr in die Steuerehrlichkeit (BGH v. 20.05.2010, 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133). Dieses Urteil hat weitreichende Konsequenzen auf die Gesetzgebung. § 371 AO ist im Zuge des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung neu geregelt mit dem Ziel die "gestufte" Selbstanzeige zu verhindern und die Ausschlussgründe des § 371 Abs. 2 AO zu verschärfen. Insbesondere schließt bereits die Bekanntgabe einer Prüfungsanordnung eine wirksame Selbstanzeige aus. Die Neufassung des Gesetzes ist nach Art. 97 § 24 EGAO auf solche Selbstanzeigen anzuwenden, die nach dem 28.04.2011 bei der Finanzbehörde eingehen. Zur Übergangsregelung vgl. BGH v. 25.07.2011, 1 StR 631/10, wistra 2011, 428. Die Selbstanzeigeregelung ist durch das Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung v. 22.12.2014 (BGBl I, 2417) mit Wirkung ab dem 01.01.2015 erneut verschärft worden.
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 371 AO lässt in den durch die Vorschrift gezogenen Grenzen den Strafanspruch des Staates entfallen. Das Strafverfolgungsinteresse tritt hinter dem Interesse an der vollständigen Erhebung der Steuer zurück. Die Selbstanzeige bildet einen persönlichen Strafaufhebungsgrund. Sie wirkt nur für solche Täter oder Teilnehmer, auf deren Veranlassung die Selbstanzeige erstattet wurde (BGH v. 02.12.2008, 1 StR 344/08, wistra 2009, 189). Vor diesem Hintergrund können Informationen an Tatbeteiligte zum Zweck der Selbstanzeige keine Strafvereitelung (§ 258 StGB) darstellen (Ransiek, wistra 1999, 401), es sei denn, der Informant hat seine Kenntnisse als Amtsträger erlangt (s. § 258a StGB). In der Beratungspraxis spielen Selbstanzeigeüberlegungen nur für die Besteuerungszeiträume eine Rolle, für die noch keine Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist. Dennoch wird die Behörde in vielen Fällen Ermittlungen für den Zeitraum der längeren steuerlichen Festsetzungsfrist aufnehmen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass für die benannten Strafschärfungsfälle des § 370 Abs. 3 Satz 2 AO eine doppelt so lange Frist läuft, wie für die Grundfälle der Steuerhinterziehung (s. § 376 Abs. 1 AO; Pelz, NJW 2009, 470). Bei der Überlegung, ob eine Selbstanzeige erstattet werden soll, ist daher zur Vermeidung von Risiken zu prüfen ob möglicherweise eine qualifizierte Form der Hinterziehung vorliegt. Dann muss die Selbstanzeige mindestens den Zehn-Jahres-Zeitraum umfassen, möglicherweise muss sie aber wegen der absoluten Verjährungsfrist weiter zurückgehen.
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Regelung der strafbefreienden Selbstanzeige in § 371 AO gilt nur für die Steuerhinterziehung des § 370 AO und nach näherer Maßgabe des § 378 Abs. 3 AO auch für die leichtfertige Steuerverkürzung (BGH v. 20.05.2010, 1 StR 577/09, DStR 2010, 1133). Entsprechend anwendbar ist die Vorschrift für die Monopolhinterziehung (s. § 128 Abs. 1 BranntwMonG). Auf die Steuerhehlerei (s. § 374 AO) und die Steuerzeichenfälschun...