Tz. 17

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Das Wort "nachträglich" ist im Gesetz nicht definiert. Aus der Zusammenschau mit § 124 Abs. 1 Satz 1 AO ergibt sich jedenfalls, dass Tatsachen oder Beweismittel, die für die Finanzbehörde erst nach Zugang und Wirksamwerden des Verwaltungsakts in Erscheinung treten, nachträglich bekannt geworden sind (BFH v. 05.12.2002, IV R 58/01, BFH/NV 2003, 588; auch Loose in Tipke/Kruse, § 173 AO Rz. 25). Dagegen scheidet eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO bei einer nachträglich entstandenen Tatsache oder einem nachträglich entstandenen Beweismittel aus (st. Rspr., z. B. BFH v. 09.03.2016, X R 10/13, BFH/NV 2016, 1665; BFH v. 17.05.2017, II R 60/15, BFH/NV 2017, 1299). Ist die Tatsache oder das Beweismittel erst nachträglich entstanden, so findet, soweit ein rückwirkendes Ereignis anzunehmen ist, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO Anwendung (AEAO zu § 173, Nr. 1.3; Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 837). § 173 AO und § 175 AO schließen sich gegenseitig aus (BFH v. 19.04.2005, VIII R 68/04, BStBl II 2005, 762). Eine Tatsache oder ein Beweismittel ist i. S. des § 173 AO nachträglich bekannt geworden, wenn sie zu einem Zeitpunkt bekannt wird, zu dem die Steuerfestsetzung nicht mehr der Willensbildung der Finanzbehörde unterliegt (BFH v. 07.07.2005, IX R 66/04, BFH/NV 2006, 256). Entscheidend muss auf den Zeitpunkt abgestellt werden, in dem sich der Entscheidungswille konkretisiert hat, in dem der Wille abschließend gebildet wurde. Das ist im maschinellen Veranlagungsverfahren der Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung des Eingabewertbogens (BFH v. 07.07.2005, IX R 66/04, BFH/NV 2006, 256; BFH v. 27.11.2001, VIII R 3/01, BFH/NV 2002, 473; von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 48 m. w. N.; a. A. Loose in Tipke/Kruse, § 173 AO Rz. 47; von Groll in HHSp, § 173 AO Rz. 209 f.) bzw. bei maschineller Bearbeitung die Freigabe (Freischaltung) des Steuerbescheids durch den Sachbearbeiter oder – je nach Zuständigkeit – den Sachgebietsleiter oder Vorsteher. Greift die Finanzbehörde nach Zeichnung des Eingabewertbogens aufgrund eines maschinellen Prüfhinweises erneut in die Willensbildung ein oder ist sie dazu verpflichtet, so können unter bestimmten Umständen die bis zum Abschluss dieser Überprüfung der organisatorisch zuständigen Stelle bekannt gewordenen Tatsachen oder Beweismittel nicht mehr Grundlage eines späteren Änderungsbescheids sein. Entscheidend ist, ob nach Zeichnung des Eingabewertbogens lediglich eine formelle Überprüfung des zu versendenden Steuerbescheids vorgenommen wurde bzw. geboten war (z. B. Prüfung der richtigen Adressierung) oder ob eine materielle Überprüfung stattfand bzw. stattzufinden hatte. Im erstgenannten Fall besteht keine Pflicht des zuständigen Amtsträgers, in die abgeschlossene Willensbildung in der Weise einzugreifen, dass der begonnene Prozess der maschinellen Bescheiderteilung unterbunden wird (BFH v. 29.11.1988, VIII R 226/83, BStBl II 1989, 259; s. AEAO zu § 173, Nr. 2.2). Ist der bekannt zu gebende Steuerbescheid an die Datenverarbeitungsanlage weitergeleitet, aber noch nicht versandt, steht das weitere Vorgehen – soweit nicht eine Überprüfung in materieller Hinsicht aus anderen Gründen geboten ist – im Ermessen des zuständigen Amtsträgers. Er kann die Nacherklärung von Einkünften zum Anlass nehmen, die Bekanntgabe des Steuerbescheids, in dem diese Einkünfte mangels Kenntnis noch nicht berücksichtigt sind, zu unterbinden oder er kann einen Änderungsbescheid erlassen (BFH v. 29.11.1988, VIII R 68/85, BStBl II 1989, 263; Koenig in Koenig, § 173 AO Rz. 76). Wird indessen ein Steuerbescheid geändert und sind dabei bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt worden, sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen (BFH v. 18.12.2014, VI R 21/13, BStBl II 2017, 4). Bestand hingegen im Rahmen der Änderung eines Steuerbescheids keine Pflicht zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekannt gewordenen Tatsachen, bleibt eine Änderung nach § 173 AO möglich (BFH v. 18.12.2014, VI R 21/13, BStBl II 2017, 4).

 

Tz. 18

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Findet ein Einspruchsverfahren statt, sind Tatsachen oder Beweismittel dann nachträglich i. S. des § 173 Abs. 1 AO bekannt geworden, wenn sie nach Absendung der Einspruchsentscheidung bekannt werden, denn im Einspruchsverfahren wird die Sache in vollem Umfang erneut geprüft (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO). Folglich ist an den Zeitpunkt anzuknüpfen, zu dem die Einspruchsentscheidung der Willensbildung der Behörde entzogen ist. Nimmt der Stpfl. den Einspruch zurück (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO), kommt es hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 173 AO wiederum auf die abschließende Zeichnung des Eingabewertbogens an (BFH v. 11.03.1987, II R 206/83, BStBl II 1987, 417).

 

Tz. 19

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Steht die Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO), werden Tatsachen ...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?


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