Tz. 6

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

§ 162 AO ist eine Vorschrift über das Steuerfestsetzungsverfahren. Die Schätzungsbefugnis steht der Finanzbehörde sowohl im Festsetzungs- und im Feststellungsverfahren einschließlich des Außenprüfungsverfahrens wie im Rechtsbehelfsverfahren gegen Festsetzungs- und Feststellungsbescheide zu, nicht dagegen dem Stpfl. Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ist auch möglich, um den Haftungsanspruch festzulegen (BFH v. 17.03.1994, VI R 120/92, BStBl II 1994, 536; BFH v. 28.03.2001, VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217 m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 14 m. w. N.). Unzulässig ist die Schätzung, wenn ein Einzelsteuergesetz sie ausschließt (z. B. § 4 Abs. 7 Satz 2 EStG).

 

Tz. 6a

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Auf Einfuhr- und Ausfuhrabgaben ist § 162 AO wegen der besonderen Regelungen der Art. 70 ff. UZK nicht anwendbar (u. a. Trzaskalik in HHSp, § 162 AO Rz. 7 für ZK).

 

Tz. 7

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Im finanzgerichtlichen Verfahren hat das FG eine eigene Schätzungsbefugnis, bzw. Schätzungspflicht (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dies gilt nicht für das Revisionsverfahren.

 

Tz. 8

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Im Straf- und Bußgeldverfahren ist § 162 AO nicht anwendbar. Der Strafrichter muss nach den strafverfahrensrechtlichen Beweisgrundsätzen die für die Steuerstraftat maßgeblichen Besteuerungsgrundlagen dem Grunde und der Höhe nach so sicher feststellen, dass er sie im Wege der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) zu seiner Überzeugung als erwiesen ansehen kann. Bei tatsächlichen Zweifeln hat er nach dem Grundsatz des in dubio pro reo zugunsten des Angeklagten zu entscheiden. Er ist daher nicht an eine vom FA oder vom FG durchgeführte Schätzung gebunden (BFH v. 14.08.1991, X R 86/88, BStBl II 1992, 128), er kann aber das Ergebnis einer Schätzung nach ihrer Überprüfung im Wege der freien Beweiswürdigung zu seiner Überzeugung als erwiesen ansehen (h. M.; u. a. Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 16 m.w.N.).

 

Tz. 9

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Besteuerungsgrundlagen sind auch dann zu schätzen, wenn gegen den Stpfl. ein Strafverfahren wegen einer Steuerstraftat eingeleitet worden ist (h. M., u. a. BFH v. 19.09.2001 XI B 6/01, BStBl II 2002, 4; s. § 393 AO Rz. 4). Dabei richten sich gem. § 393 Abs. 1 Satz 1 AO die Rechte und Pflichten der Stpfl. und der Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren und im Strafverfahren nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften; d. h. für das Besteuerungsverfahren gilt die AO, für das Strafverfahren die StPO. Der (beschuldigte) Stpfl. hat im Besteuerungsverfahren die von der AO vorgeschriebenen Mitwirkungspflichten zu erfüllen (BFH v. 19.09.2001, XI B 6/01, BStBl II 2002, 4). Der Grundsatz, dass niemand gehalten ist, sich selbst zu beschuldigen ("Nemo-Tenetur-Grundsatz"), ist in erster Linie ein strafprozessuales Prinzip und befreit nicht von gesetzlich normierten Mitwirkungspflichten im Übrigen (BFH v. 19.10.2005, X B 88/05, BFH/NV 2006, 15 m. w. N.).

 

Tz. 10

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Obwohl also im Besteuerungsverfahren auch hinsichtlich des Vorliegens einer Steuerhinterziehung z. B. bei §§ 71, 169 Abs. 2 Satz 2 oder 235 AO die steuerlichen Verfahrensregeln gelten, soll sowohl insoweit als auch bei der Schätzung des Hinterziehungsbetrages nicht nach Wahrscheinlichkeitserwägungen verfahren, sondern der Grundsatz "in dubio pro reo" beachtet werden (BFH v. 29.01.2002, VIII B 91/01, BFH/NV 2002, 749 m. w. N.). Dies soll es ausschließen, die Schätzung der hinterzogenen Steuern – entsprechend den allgemeinen Grundsätzen im Falle der Verletzung von Mitwirkungspflichten – auf Wahrscheinlichkeitserwägungen, d. h. auf ein reduziertes Beweismaß zu stützen und an der oberen Grenze des für den Einzelfall zu beachtenden Schätzrahmens (s. Rz. 47) auszurichten.

Dies vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil – wie sich gerade an der Höhe der durch Schätzungsveranlagung zu erfassenden hinterzogenen Steuern zeigt – der Steuerhinterzieher bevorzugt würde. Bei der Feststellung der Steuerhinterziehung als Tatbestandsmerkmal des Steuergesetzes handelt es sich um eine strafrechtliche Vorfrage im Rahmen einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheids und ist vom FA und vom FG in eigener Zuständigkeit ausschließlich nach den Vorschriften der AO und der FGO und nicht nach den Vorschriften der StPO zu prüfen. Die nachträgliche Festsetzung der hinterzogenen Steuern hat auch keinen Strafcharakter, sondern dient lediglich der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (BFH v. 27.11.2003, II B 104/02, BFH/NV 2004, 463 m. w. N.). Bei der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen für Besteuerungszwecke handelt es sich ebenfalls ausschließlich um eine Maßnahme im Besteuerungsverfahren. Auswirkungen auf das Strafverfahren sind nicht zwangsläufig (s. Rz. 8). Für die Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" besteht weder die Notwendigkeit noch – da die Festsetzung der hinterzogenen Steuer keine strafrechtliche Sanktion ist – eine gesetzliche Grundlage. Das...

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