Tz. 12
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AO sind die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Der Begriff ist streitig. Ähnlich wie der für das Außenprüfungsverfahren in § 199 Abs. 1 AO definierte Begriff der Besteuerungsgrundlagen als "tatsächliche und rechtliche Verhältnisse, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer maßgebend sind", beschränkt er sich auch hier nicht auf Tatsachen. Denn je nach Ansatz der Schätzung schließt sie rechtliche Wertungen mit ein, wie z. B. im Fall der Gewinnschätzung. Er beschränkt sich damit auch nicht auf bloße quantitative Größen wie Höhe der Umsätze, des Gewinns oder der Einkünfte usw., sondern erfasst auch sog. qualitative Tatsachen, d. h. Grundsachverhalte wie z. B. das Vorliegen von Einkünften und Umsätzen (so u. a. BFH v. 07.08.1985, I R 309/82, BStBl II 1986, 42; BFH v. 21.12.2004, II B 110/04, BFH/NV 2005, 704; Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 20 mit ausführlicher Auseinandersetzung; von Wedelstädt, AO-StB 2002, 275, 278 m. w. N.; a. A. BFH v. 20.01.2010, X B 70/10, BFH/NV 2010, 2007; BFH v. 19.01.2017, III R 28/14, BStBl II 2017, 743; Rüsken in Klein, § 162 AO Rz. 9b). Da auch die Meinung, die unter Besteuerungsgrundlagen nur Berechnungsgrundlagen fassen will, bei nicht quantitativen Besteuerungsgrundlagen wie Einkünften, Umsätzen o. Ä. die Grundsätze der Beweislastregelung des § 444 ZPO anwenden will, kommen beide Ansichten jedenfalls praktisch zu demselben Ergebnis (Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 20 m. w. N.).
Tz. 13
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Reine Rechtsfragen wie z. B. die Frage, ob ein Gewerbebetrieb vorliegt, können nicht Gegenstand einer Schätzung sein. Dasselbe gilt für die Steuer, es sei denn, sie ist selbst Besteuerungsgrundlage. Dies ist der Fall bei der Umsatzsteuer bezüglich der Vorsteuer, die geschätzt werden kann, wenn dadurch nicht der Mangel der fehlenden Rechnung behoben wird (BFH v. 12.06.1986, V R 75/78, BStBl II 1986, 721; BFH v. 31.07.2007 V R 56/06, BFH/NV 2008, 416), wenn also mit ausreichender Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass ursprünglich ordnungsgemäße Rechnungen vorhanden waren, aber nicht mehr vorgelegt werden können (UStAE Abschn. 15.11 Abs. 5 f.; weiter Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 28, soweit Vorsteuern den Umständen nach zweifellos entstanden sind). Geschätzt werden kann im Hinblick auf § 20 Abs. 1 Nr. 3 EStG die nach § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 EStG anzurechnende Körperschaftsteuer (Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 26; von Wedelstädt, AO-StB 2002, 275, 278) und die gegen den Arbeitgeber festzusetzende Lohnsteuer, wenn der Arbeitgeber sie trotz gesetzlicher Verpflichtung nicht anmeldet und abführt, auch wenn gleichzeitig die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftungsbescheides nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt sind (BFH v. 07.07.2004, VI R 171/00, BStBl II 2004, 1087; Bedenken Drüen, DB 2005, 299), nicht jedoch die einbehaltene Lohn- oder Kapitalertragsteuer, die nach § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 EStG auf die Einkommensteuer angerechnet wird, daher dem Steuererhebungsverfahren zuzurechnen und keine Besteuerungsgrundlage ist. Bei Schätzung von Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit kann LSt nach h. M. gleichwohl – teilweise in entsprechender Anwendung des § 162 AO – angesetzt werden (u. a. Seer in Tipke/Kruse, § 162 AO Rz. 26 m. w. N.; Oellerich in Gosch, § 162 AO Rz. 133 "Anrechnung"; AO-Kartei NRW, § 162 Karte 801 – 11/05, Rz. 2.1). Bei der Schätzung von Einkünften aus Kapitalvermögen kommt eine Anrechnung von geschätzten Kapitalertragsteuerbeträgen nicht in Betracht, weil die Anrechnung die Vorlage der Steuerbescheinigung nach § 45a Abs. 2 oder 3 EStG voraussetzt (BFH v. 29.04.2008, VIII R 28/07, BStBl II 2009, 843; AO-Kartei NRW, § 162 Karte 801 – 11/05, Rz. 2.2).
Tz. 14
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
vorläufig frei