Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 85 Satz 2 AO konkretisiert die Aufgaben der Finanzbehörden dahingehend, dass sie sicherzustellen haben, dass Steuern weder verkürzt noch zu Unrecht erhoben oder Steuererstattungen oder -vergütungen weder zu Unrecht gewährt noch versagt werden. Darin kommt zum Ausdruck, dass die Tätigkeit der Finanzverwaltung nicht primär das Ziel hat, ein möglichst hohes Steueraufkommen zu sichern, sondern der Erreichung einer gleichmäßigen und gesetzmäßigen Steuererhebung dienen soll (Rechtsanwendungsgleichheit). Die Finanzbehörden sind damit nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die wegen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes entstandenen Steueransprüche festzusetzen und zu erheben. Die Finanzbehörden haben die Besteuerungsgrundlagen in strikter Legalität umzusetzen, um die verfassungsrechtlich geschützte Besteuerungsgleichheit zu gewährleisten (BFH v. 28.11.2016, GrS 1/15, BStBl II 2017, 393). Die Besteuerungswirklichkeit wird diesem Postulat jedoch oft nicht gerecht. Dies hat seine Ursache zum einen darin, weil es sich um Massenfallrecht handelt, bei dem eine umfassende Sachverhaltsprüfung nicht zuletzt wegen der Kompliziertheit des Steuerrechts kaum möglich ist, zum anderen aber auch deshalb, weil die FinVerw. in einer Vielzahl von Fällen vollständig auf Nachprüfungen verzichtet. Diese sog. gewichtende oder als Risikomanagement bezeichnete Arbeitsweise gewährleistet eine gleichmäßige Besteuerung nicht mehr. Eine extreme Verletzung der Rechtsanwendungsgleichheit kann zur Verfassungswidrigkeit des Steuereingriffs führen (BVerfG v. 27.06.1991, 2 BvR 1493/89, BStBl II 1991, 654, sog. Zinsurteil; BVerfG v. 16.03.2005, 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268). Daran ändert auch die gesetzliche Verankerung der Zulässigkeit von Risikomanagementsystemen in § 88 Abs. 5 AO nichts. Denn auch beim Einsatz der Risikomanagementsysteme müssen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Steuererhebung und den Vollzug der gesetzlichen Regelungen gewahrt bleiben. Nimmt das Risikosystem – z. B. durch bestimmte Aufgriffs- oder Nichtbeanstandungsgrenzen Vollzugsdefizite in Kauf, kann dies einen Verstoß gegen Art. 3 GG darstellen (s. § 88 Rz. 1, 20). Wegen der Verpflichtung zur gleichmäßigen Steuerfestsetzung ist für Ermessenserwägungen im Festsetzungsverfahren kein Raum. Dies gilt auch für Entscheidungen zugunsten der Stpfl. Die Finanzbehörde darf weder im Einzelfall noch durch allgemeine Verwaltungsregelungen in bestimmten Fallgruppen auf die Steuererhebung verzichten. Der Steueranspruch steht nicht zur Disposition der Finanzverwaltung. Ebenso wenig dürfen Zweckmäßigkeitserwägungen in die Festsetzung und Erhebung der gesetzlich entstandenen Steuern angestellt werden. Ermessenserwägungen sind nur möglich, soweit das Gesetz den Finanzbehörden einen Ermessensspielraum eröffnet (BFH v. 28.11.2016, GrS 1/15, BStBl II 2017, 393; BFH v. 23.08.2017, I R 52/14, BStBl I 2018, 232). Soweit § 88 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 2 AO auch Wirtschaftlichkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen in den Festsetzungsprozess einfließen lassen, dürfte dies nicht für die Rechtsanwendung, sondern nur für die Sachverhaltsermittlung gelten, s. § 88 Rz. 7). Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung schließt Vereinbarungen über den gesetzlich entstandenen Steueranspruch aus; allerdings sind tatsächliche Verständigungen bezüglich des der Besteuerung zugrunde liegenden Sachverhalts zulässig (ausführlich Seer in Tipke/Kruse, Vor § 118 AO Rz. 10 ff.). Eine Vereinbarung über Rechtsfragen ist demnach ausgeschlossen. In der Praxis lassen sich indes Rechtsfragen nicht immer streng von dem zugrunde liegenden Sachverhalt trennen. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Tatfrage, die Gegenstand einer tatsächlichen Verständigung sein kann, und der Rechtsfrage ist nicht immer möglich. Damit wirkt die Verständigung über ein Tatbestandsmerkmal regelmäßig auf die Rechtsfolge und damit auf die rechtliche Würdigung ein. Dies hindert die Zulässigkeit der tatsächlichen Verständigung nicht (FG Ha v. 29.06.2016, 1 K 3/16, EFG 2016, 439 m. w. N., rkr.).
Im Vollstreckungsverfahren folgt aus § 85 AO zugleich die Pflicht des FA, festgesetzte Beträge unter Einsatz von Vollstreckungsmaßnahmen beizutreiben; allerdings steht den FÄ bei der Wahl der Vollstreckungsmaßnahmen ein Ermessensspielraum zu.
Die Rechte und Pflichten der Finanzbehörde erstrecken sich nicht nur auf Ermittlungen in einem bekannten Steuerfall, sondern auch auf Maßnahmen zur Ermittlung steuerlich relevanter Sachverhalte außerhalb eines konkreten Besteuerungsverfahrens. Die entsprechenden Befugnisse sind in den § 86ff. AO geregelt. Auch die Außenprüfung (§§ 193 bis 203 AO) gehört zu den Ermittlungsmaßnahmen. Zur Sicherstellung einer gleichmäßigen Besteuerung dienen auch die allgemeinen Mitwirkungspflichten von Behörden und Rundfunkanstalten, die z. B. in der MitteilungsVO (vom 07.09.1993, BGBl I 1993, 1554) geregelt sind.