Tz. 6
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Pflicht des FG zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) wird eingeschränkt durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten, die in § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO gesetzlich statuiert ist, wobei dem Gedanken der Beweisnähe besondere Bedeutung zukommt (BFH v. 21.07.2017, X B 167/16, BFH/NV 2017, 1447). Diese gesetzliche Pflicht der Beteiligten geht umso weiter, je weniger die aufzuklärenden Tatsachen dem Gericht zugänglich sind und im Wesentlichen oder gar ausschließlich in deren Sphäre liegen (BFH v. 11.12.2003, V B 102/03, BFH/NV 2004, 649). Die Ermittlungspflicht des Gerichts bleibt dabei vorrangig, jedoch entbindet der Untersuchungsgrundsatz die Beteiligten (Kläger und Finanzbehörde) nicht von ihren prozessualen Mitwirkungspflichten, insbes. ihrer Darlegungs- und Erklärungslast einschließlich aller entscheidungserheblicher Tatsachen (BVerfG v. 26.11.1985, 1 BvR 274/85, HFR 1986, 424). Das FG verletzt daher seine Amtsermittlungspflicht nicht, wenn es Aufklärungsmaßnahmen unterlässt, welche der fachkundig vertretene Beteiligte selbst in zumutbarer Weise hätte treffen bzw. erbringen können, diese jedoch unterlassen hat (BFH v. 22.07.2010, VII B 126/09, BFH/NV 2010, 2227). Ist vollständige Aufklärung des Sachverhalts wegen Verletzung der Mitwirkungspflichten nicht möglich, so führt das zu einer Verringerung der dem FG obliegenden Sachaufklärungspflicht und zu einer Minderung des Beweismaßes, nicht jedoch zu einer Entscheidung nach den Regeln der (objektiven) Feststellungslast (BFH v. 22.05.2007, X B 143/06, BFH/NV 2007, 1692; BFH v. 25.03.2010, X B 96/09, BFH/NV 2010, 1459; BFH v. 04.12.2013, X B 120/13, BFH/NV 2014, 546). Je weniger die Beteiligten ihrer Mitwirkungspflicht nachkommen, ist das FG umso weniger zur Sachaufklärung verpflichtet; dies gilt jedoch nicht, wenn sich der entscheidungserhebliche Sachverhalt größtenteils aus den Steuerakten ergibt (BFH v. 30.07.2003, X R 28/99, BFH/NV 2004, 201). Das bedeutet, dass das FG in diesen Fällen mit einem geringeren Grad an Überzeugung entscheiden kann (Krumm in Tipke/Kruse, § 76 FGO Rz. 92; BFH v. 02.02.2010, VI B 117/09, BFH/NV 2010, 879). Soweit die Verletzung von Mitwirkungspflichten auch die von abgabenrechtlichen Mitwirkungspflichten umfasst, kann – sofern Tatsachen aus dem Bereich des Steuerpflichtigen betroffen sind – dies sogar dazu führen, dass aus seinem Verhalten für ihn nachteilige Schlüsse im Rahmen der Beweiswürdigung gezogen werden, denn dem "Beweisverderber" darf aus seinem Verhalten kein Vorteil entstehen (BFH v. 16.12.1992, X R 77/91, BFH/NV 1993, 547; BFH v. 07.04.2003, V B 28/02, BFH/NV 2003, 1195). Kommt z. B. ein Beteiligter der Auflage eines Aufklärungsbeschlusses zur Vorlegung einer Urkunde pflichtwidrig nicht nach, so kann das FG davon ausgehen, dass der vom Gegner behauptete Inhalt der Urkunde wahr sei (BFH v. 12.06.1969, V 12/65, BStBl II 1969, 531).
Tz. 7
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Auch die beklagte Behörde ist zur angemessenen Mitwirkung verpflichtet. Der Grundsatz der Amtsermittlung entbindet sie nicht davon, Beweisanträge oder Beweisermittlungsanträge zu stellen (BFH v. 26.02.1975, II R 120/73, BStBl II 1975, 489); diesbezügliche Unterlassungen können sich im Rechtsmittelverfahren gravierend auswirken. Bestimmte Sachverhaltsgestaltungen können nach höchstrichterlicher Rechtsprechung einen Beweis des ersten Anscheins (Prima-facie-Beweis) für das Erfüllen bestimmter Gesetzestatbestände erzeugen (z. B. BFH v. 12.06.1978, GrS 1/77, BStBl II 1978, 620). Für die Entkräftung des Anscheinsbeweises ist nicht der Beweis des Gegenteils, sondern nur Gegenbeweis erforderlich und ausreichend, also die Darlegung der ernstlichen Möglichkeit einer anderen Schlussfolgerung (BFH v. 13.11.1979, VIII R 93/73, BStBl II 1980, 69). Wird der Beweis des ersten Anscheins durch den Steuerpflichtigen dergestalt entkräftet, so trifft die Finanzbehörde (wieder) die objektive Feststellungslast für ihre Behauptung. Nicht nach den Regeln des Anscheinsbeweises kann die Finanzbehörde den ihr obliegenden Nachweis des Zugangs des Verwaltungsakts im Falle des § 122 Abs. 2 letzter HS AO erbringen (BFH v. 14.03.1989, VII R 75/85, BStBl II 1989, 534); es gelten vielmehr die allgemeinen Beweisregeln, insbes. die des Indizienbeweises. Dabei darf das Gericht, sofern der Kläger behauptet, er habe einen Steuerbescheid erst an einem späteren Tag als dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post erhalten, nicht allein aufgrund der denkbaren Möglichkeit, Bescheiddatum und Absendetag könnten auseinanderfallen, davon ausgehen, der Kläger habe den Bescheid erst an dem von ihm behaupteten Tag erhalten. Vielmehr muss es zunächst den maßgeblichen Sachverhalt angemessen aufklären und darf erst dann nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheiden, ob Zweifel am Zugang innerhalb des Dreitageszeitraums bestehen mit der Folge, dass dann die Behörde den Zeitpunkt des Zugangs nac...