I. Ermessensentscheidung
Tz. 20
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Liegen die Voraussetzungen vor, kann die Finanzbehörde über Billigkeitsmaßnahmen entscheiden, und zwar sowohl darüber, ob sie eine solche trifft, als auch darüber, welche sie trifft. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung (h. M.; BFH v. 30.04.2009, V R 15/07, BStBl II 2009, 744 m. w. N.; BFH v. 28.11.2016, GrS 1/15, BStBl II 2017, 393; BFH v. 23.08.2017, I R 52/14, BStBl II 2018, 232), die im finanzgerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt überprüfbar ist (§ 102 FGO). Nach Ansicht des BFH (s. dazu Rz. 6) bestimmt der Maßstab der Billigkeit Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens (BFH v. 07.11.2006, VI R 2/05, BStBl II 2007, 315 m. w. N.; BFH v. 28.11.2016, GrS 1/15, BStBl II 2017, 393; BFH v. 23.08.2017, I R 52/14, BStBl II 2018, 232). Bei der Ermessensentscheidung ist der Zeitraum zwischen der Entstehung des Steueranspruchs und der Antragstellung zu berücksichtigen, für die Entscheidung sind also nicht allein die Umstände bei Entstehen oder Festsetzung des Steueranspruchs maßgeblich. Ist bei Antragstellung für den Folgebescheid, in dem die Billigkeitsmaßnahme nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO umgesetzt werden soll, die Festsetzungs- oder Feststellungsfrist abgelaufen, ist es regelmäßig wegen § 171 Abs. 10 Satz 2 AO (s. Rz. 24) ermessensgerecht, eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO abzulehnen; ggf. ist die Möglichkeit eines Erlasses nach § 227 AO zu prüfen (AEAO zu § 163, Nr. 4 Satz 2).
Tz. 20a
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Eine fehlerfreie Ermessensentscheidung setzt voraus, dass der entscheidungserhebliche Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt worden ist. Der Umfang der Ermittlungspflicht der Finanzbehörde richtet sich nach § 88 AO. Sie wird dabei begrenzt durch die dem Stpfl. gem. § 90 AO auferlegten Mitwirkungspflichten (BFH v. 23.11.2000, III R 52/98, BFH/NV 2001, 882 m. w. N.). Durch allgemeine Verwaltungsvorschriften können Maßstäbe für die Ermessensausübung aufgestellt werden, die das Ermessen des FA auf null reduzieren und die auch von den Gerichten zu beachten sind, wenn sich die in ihnen getroffenen Regelungen in den Grenzen halten, die das Grundgesetz und die einfachen Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen (u. a. BFH v. 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 17 m. w. N.). Erfordern gemeinschaftsrechtliche Regelungen eine Billigkeitsmaßnahme, ist das Ermessen des FA auf null reduziert (BFH v. 30.04.2009, V R 15/07, BStBl II 2009, 744 m. w. N.).
Tz. 21
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Die Unbilligkeit ist sowohl Tatbestandsvoraussetzung als auch Ermessensschranke (Loose in Tipke/Kruse, § 227 AO Rz. 25). Ist die Einziehung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis im Einzelfall unbillig, dann ist die den Erlass aussprechende Entscheidung ermessensfehlerfrei (FG Ddorf v. 19.07.2000, 7 K 237/97 AO, EFG 2000, 1410). Es liegt in derartigen Fällen eine Ermessensreduzierung auf null vor (s. dazu BFH v. 16.11.2005, X R 3/04, BStBl II 2006, 155 m. w. N.).
Tz. 22
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Im außergerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahren nach der InsO muss in die Ermessenserwägungen die Zielsetzung der InsO einbezogen werden, redlichen Schuldnern nach einer gewissen Wohlverhaltensphase und unter Einbeziehung sämtlicher Gläubiger eine Schuldenbereinigung als Voraussetzung für einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen (BMF v. 11.01.2002, IV A 4 – S 0550–1/02, Nr. 3, BStBl I 2002, 132).
II. Verfahren
Tz. 23
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Die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme erfolgt in einem besonderen Verfahren durch besonderen Verwaltungsakt und nicht im Steuerfestsetzungsverfahren (BFH v. 07.07.2004, II R 3/03, BStBl II 2004, 1006 m. w. N.; s. Rz. 27). Sie kann auch nach Bestandskraft der Steuerfestsetzung und nach Eintritt der Festsetzungsverjährung getroffen werden, soweit der Antrag nicht unverhältnismäßig spät gestellt wird. Sie unterliegt unmittelbar keinen gesetzlichen Fristen. Ein Zeitablauf kann aber im Rahmen der Ermessenentscheidung berücksichtigt werden (zum Zeitablauf BFH v. 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 17 m. w. N.; Loose in Tipke/Kruse, § 163 AO Rz. 21a). Sie ist von dem für die Steuerfestsetzung bzw. die gesonderte Feststellung zuständigen FA zu treffen. Zu Zustimmungsvorbehalten von OFD, Landes- und Bundesfinanzministerium s. BMF v. 15.02.2017, BStBl I 2017, 283; Gleichlautende Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder v. 24.03.2017, BStBl I 2017, 419 und § 227 AO Rz. 47. Eine besondere Form der Entscheidung ist nicht vorgeschrieben.
Tz. 23a
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Die Billigkeitsmaßnahme kann mit der Steuerfestsetzung bzw. den der Steuerfestsetzung gleichgestellten Bescheiden wie die gesonderte Feststellung (§ 181 Abs. 1 Satz 1 AO) und der Steuermessbescheid (§ 184 Abs. 1 Satz 3 AO) äußerlich verbunden werden (§ 163 Abs. 2 AO), auch indem sie in die Erläuterungen des Steuerbescheids aufgenommen wird (Loose in Tipke/Kruse, § 163 AO Rz. 25). Sie verliert durch die äußerliche Verbindung mit der...