Tz. 31
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Stpfl. hat – sofern der Tatbestand einer Ermessensnorm erfüllt ist – in jedem Fall ein subjektives öffentliches Recht auf eine fehlerfreie Ermessensausübung durch die Behörde (BVerfG v. 26.02.1985, 2 BvL 17/83, BVerfGE 69, 150). Demzufolge ist es geboten, dem Bürger die Überprüfung von Ermessensentscheidungen zu ermöglichen. Dies geschieht durch die Einlegung von außergerichtlichen (s. Rz. 32) und gerichtlichen Rechtsbehelfen (s. Rz. 33 ff.), die allerdings für die Behörde und die Gerichte jeweils unterschiedliche Überprüfungsintensitäten beinhalten.
I. Einspruchsverfahren
Tz. 32
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Im Einspruchsverfahren nach § 347 AO überprüft die Einspruchsbehörde nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit der Ermessensentscheidung. Denn das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren ist Teil des Verwaltungsverfahrens. Im Einspruchsverfahren kann daher eine völlig neue Ermessensausübung stattfinden oder, falls eine solche im bisherigen Verwaltungsverfahren unterlassen wurde, nachgeholt werden (auch s. Rz. 15).
II. Gerichtliches Verfahren
1. Umfang der gerichtlichen Überprüfung von Ermessensentscheidungen
Tz. 33
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Gemäß § 102 Satz 1 FGO überprüft das FG Ermessensentscheidungen der Finanzbehörden, ob der Ermessensverwaltungsakt (bei Anfechtungsklagen, § 40 Abs. 1 1. Alt. FGO) oder die Ablehnung bzw. Unterlassung eines Verwaltungsakts (bei Verpflichtungsklagen, § 40 Abs. 1 2. Alt. FGO) rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens (s. Rz. 24 ff.) überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung (s. Rz. 25) nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (z. B. BFH v. 25.09.2013, VII R 7/12, BFH/NV 2014, 7). Die Vorschrift trägt dem Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Rechnung, indem es die gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen nur auf ihre Rechtmäßigkeit beschränkt und – anders als die Prüfung durch die Einspruchsbehörde (s. Rz. 32) – nicht auch auf die Zweckmäßigkeit erstreckt (s. § 102 FGO Rz. 1). Damit werden die Gerichte auf ihren verfassungsmäßigen Auftrag, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auf Anrufung zu überprüfen, verwiesen, während die Ausübung des Ermessens selbst der Verwaltungsbehörde in eigener Zuständigkeit überlassen bleibt.
Da der Kläger bei Ermessensentscheidungen nur einen Anspruch auf ein Tätigwerden der Behörde und eine ermessensfehlerfreie Entscheidung hat, kann das Gericht Ermessensentscheidungen nur eingeschränkt daraufhin überprüfen, ob Ermessensfehler vorliegen, also nur, ob Ermessensüberschreitung (s. Rz. 36), Ermessenunterschreitung (s. Rz. 41 f.) oder Ermessensfehlgebrauch (s. Rz. 37 ff.) vorliegen (s. § 102 FGO Rz. 1 f.). Die Gerichte können die angefochtenen Verwaltungsakte lediglich aufheben und dürfen nicht ihr eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen (auch s. Rz. 29). Demzufolge ist eine Klage, mit der die Ersetzung einer innerhalb des gesetzlichen Ermessensrahmens getroffenen Entscheidung durch eine andere, ebenso ermessensgerechte, aber für den Kläger günstigere Entscheidung, begehrt wird, mangels Klagebefugnis (§ 40 Abs. 2 FGO) unzulässig.
Tz. 34
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Eine Ausnahme von den vorstehenden Grundsätzen (s. Rz. 33) besteht im Fall der Ermessensreduzierung auf null (s. Rz. 29). In diesen Fällen ist – wie der BFH in st. Rspr. etwas unglücklich formuliert – die Entscheidung des Gerichtes an die Stelle der Behördenentscheidung zu setzen, da nur diese eine Entscheidung rechtmäßig ist (BFH v. 11.12.2013, XI R 22/11, BStBl II 2014, 332 m. w. N.; s. Rz. 29). Es handelt sich im Ergebnis um eine gebundene Entscheidung der Behörde, die von den Gerichten wie sonst auch uneingeschränkt überprüft werden kann (s. Rz. 29).
Tz. 35
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Für die Beurteilung, ob eine Ermessensentscheidung rechtmäßig war, ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung – i. d. R. der Einspruchsentscheidung – entscheidend, sofern das FA nicht seine Ermessenserwägungen danach im finanzgerichtlichen Verfahren gem. § 102 Satz 2 FGO in zulässiger Weise ergänzt hat (vgl. BFH v. 11.12.2013, XI R 22/11, BStBl II 2014, 332; BFH v. 27.04.2016, X R 1/15, BStBl II 2016, 840; Lange in HHSp, § 102 FGO Rz 62, 65 ff.). Bei Verpflichtungsklagen auf Erlass eines gebundenen Verwaltungsakts kommt es allerdings auf die im Zeitpunkt der Entscheidung in der Tatsacheninstanz bestehende Sach- und Rechtslage an, da es darauf ankommt, ob der Kläger einen Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsakts hat. Dies gilt auch bei Ermessensentscheidungen, wenn eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt (BFH v. 11.10.2017, IX R 2/17, BFH/NV 2018, 322). § 102 Satz 2 FGO gestattet es aber der Finanzbehörde, bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht als Tatsacheninstanz ihre bereits angestellten Ermessenserwägungen zu ergänzen (d. h. zu vertiefen, verbreitern und verdeutlichen) und dem FG mitzuteilen. Die Finanzbehörde darf aber nicht die Begründung...